Berlin - ein Heimatbuch
habe einen Wahnsinnshunger.«
»Gut, dass du das sagst. Mir hängt der Magen nämlich auch auf halb acht. Das Essen hat kaum für den hohlen Zahn gereicht.«
»Dafür reichte der Preis aber für ein komplett neues Gebiss.« Einmal Schwabe, immer Schwabe.
»Und nu? Ist ja noch früh am Tag. Wo soll’s denn jetzt hingehen, Murat? Du kennst dich doch sicher aus.«
Ich grübele kurz.
»Ich hab ’ne Idee: ist so ’ne Art Szenetreff, nur junge Leute – und alle haben Abitur.«
Karl blickt mich scheel von der Seite an.
»Guck nicht so skeptisch: Ich meine die Mensa. In der Humboldt-Uni.«
Seine Gesichtszüge entspannen sich.
»Aber braucht man da nicht einen Studentenausweis?«
»Nee, so wie du aussiehst, kommen wir da so rein!«, sage ich und lache mich über meinen eigenen Witz schlapp.
Der Arme weiß nicht, ob er das als Kompliment verbuchen soll. Oder doch eher als Beleidigung.
Vor der Uni ist der übliche Bücherflohmarkt aufgebaut. Oh je, den hatte ich ganz vergessen. Böse Falle.
Karl ist sofort elektrisiert.
»Hey, Murat, alle Achtung! Ein Open-Air-Antiquariat, und das direkt vor der Uni. Wahnsinn. Du kennst wirklichen die besten Plätze der Stadt!«
»Hattest du nicht Hunger?«, frage ich, obwohl ich schon weiß, dass ich das warme Mittagessen vorläufig knicken kann. In der Tat nimmt mich das Büchermonster schon nicht mehr wahr und ist bereits komplett in die Welt der modrigen Seiten und angestoßenen Buchdeckel abgetaucht.
»Wusstest du eigentlich«, fragt er mit dem Rücken zu mir aus irgendeinem Karton heraus, »dass die Gründung der Universität auf Wilhelm von Humboldt zurückgeht? Wilhelm war der ältere und sesshaftere der beiden Humboldt-Brüder. Während Alexander sich der Naturkunde widmet, ständig in der Welt herumkurvt und vor allem Südamerika erforscht und dem deutschen Lesepublikum zugänglich macht, sitzt Wilhelm in dem von den Eltern geerbten Schloss Tegel und pflegt geistesgeschichtliche Studien. Man sagt, er habe mindestens sieben Sprachen perfekt beherrscht.«
»Nee, wusste ich nicht, interessiert mich aber auch nicht«, antworte ich renitent, da ich das Gefühl habe, dass mein hungriger Magen gleich aus der nächsten Körperöffnung tritt, um mich zu verprügeln.
»Und Alexander, den seine Lehrer absurderweise als eher mäßig intelligent und lernunwillig einschätzten, war ein wahrer Pionier vernetzten und globalen Denkens.«
»Da kannst du mal sehen, was Lehrer für eine Menschenkenntnis haben«, unke ich.
»Über Alexander von Humboldt hat Daniel Kehlmann einen großartigen Roman geschrieben, ›Die Vermessung der Welt‹. Wurde allein im deutschsprachigen Raum weit über 1,5 Millionen Mal verkauft. Daniel Kehlmann lebt übrigens in Berlin.«
Ich gebe auf. Und beginne, aus purer Verzweifelung die vor mir stehende Kiste mit Comicheften durchzuchecken. Während der angeberische Kollege weiter in Hochkultur macht.
»Guck mal hier, Heinrich von Kleist: ›Der Katechismus der Deutschen‹.Viele kennen ja nur den ›Zerbrochenen Krug‹ oder den ›Michael Kohlhaas‹. Als Lokalpatriot schätze ich natürlich vor allem ›Das Käthchen von Heilbronn‹. Der gute Kleist steht ja auch in direkter Verbindung mit Berlin, hat dort sogar eine Zeit lang im preußischen Finanzministerium gearbeitet. Und hier, noch ein preußischer Staatsbediensteter: E. T. A. Hoffmann. Der war ja nun Romantiker durch und durch. Kleist verkehrte zwar auch in den Zirkeln der literarischen Romantiker, aber im Grunde konnte er mit deren Ästhetik und politischen Vorstellungen nix anfangen.«
»Is ja nicht wahr«, murmle ich in meinen frisch rasierten Bart. Triumphierend recke ich einen sensationellen Fund in die Höhe.
»Schau mal hier, das ist echte Berliner Hochkultur!«
Karl taucht aus seiner Grabbelkiste auf, drei oberschenkeldicke Bände im Arm, und mustert voller Skepsis mein Fundobjekt.
»›Didi & Stulle‹? Und wer bitte ist der schaue Fil?«
»Den kennst du nicht? Du Ignorant. Das ist Literatur der Gegenwart, so was solltest du wissen. Band 105, den habe ich ewig gesucht.« Zufrieden packe ich mir das Heft unter den Arm und weiter geht’s im nächsten Karton. Auch mein Nachbar widmet sich wieder seinen Schätzen.
»Schau an: Clemens von Brentano!« Karl zieht ein recht zerfleddertes Buch hervor und präsentiert es mit einem Stolz, als hätte er es selbst geschrieben. »Brentano war ja in Berlin Mitbegründer der ›Deutschen Tischgesellschaft‹, die sich nicht zuletzt durch
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