Berlin - ein Heimatbuch
S-Bahn ...«
»Wahnsinn.« Er ist so auf sein Buch fixiert, dass er mich erst bemerkt, als er kurz in die Sonne blinzelt.
»Ach, Murat. Hallo. Wie spät ist es?«
»Wie müssen Uhren aussehen, damit ein Schwabe sie als Zeitmesser erkennt?«, ätze ich, mit Verweis auf die vielen Chronometer hinter uns. Karl reagiert für seine Verhältnisse ungewohnt kleinlaut. »Stimmt, wie dumm von mir.« Aber schon im nächsten Augenblick trägt ihn die Begeisterung für sein neu erworbenes Wissen fort.
»Wusstest du, dass für die Weltzeituhr 1969 Fachleute aus sage und schreibe 120 verschiedenen Handwerksberufen kooperieren mussten?«
»Nee, wusste ich nicht.«
»Ist aber so. Guck dir diesen Zylinder hier an.«
Er dreht sich zu der wehrlosen Weltzeituhr hin und betatscht sie ungeniert.
»Der hat 24 Ecken und Seiten, also genauso viele, wie es Zeitzonen gibt. Und in jede Seite, das heißt in jede Zeitzone, wurden die Namen großer Städte eingefräst. Zum Beispiel hier Sankt Petersburg. Oder hier Almaty, den meisten eher unter dem alten Namen Alma-Ata bekannt. Guck, hier in dem Zylinder dreht sich dann ein Stundenring. Auf dem wandern die Stunden, farblich gekennzeichnet, durch die diversen Zonen. Super, oder?«
»Sonnenuhren finde ich superer«, sage ich, einfach nur um irgendetwas zu sagen. Ich weiß eh, dass der Vortragskünstler nicht hinhört.
»Und obendrüber, das ist eine vereinfachte Darstellung der Planeten unseres Sonnensystems und ihrer Bahnen. Die dreht sich pro Minute genau einmal. Aber jetzt rate, wo sich die Technik der Uhr befindet, also der Elektromotor und das Getriebe?«
»In Almaty?«
»Zwei Meter unter dem Alexanderplatz. Und zwar in einem exakt fünf mal fünf Meter großen und 1,90 Meter hohen Raum.« Sieh an, das wäre doch der ideale Aufenthaltsort für schwäbische Sonderschullehrer. Ich muss mich dringend erkundigen, ob der Bezirk nicht einen Technikwärter mit 24-stündiger Anwesenheitspflicht sucht.
»Und solltest du dich noch einmal neu verlieben, Murat: Es gilt als gesicherte Erkenntnis, dass Paare, die um 24 Uhr Berliner Zeit an der Weltzeituhr Händchen halten, für immer zusammenbleiben.« Jetzt ist aber genug. Hat der unsensible Klotz verdrängt, dass ich glücklicher Ehemann und werdender Vater bin?
»Was ist Sache, Karl-Holger?« Karl ist okay, Holger ist auch okay, Die Kombination Karl-Holger aber nervt mein Gegenüber, so viel habe ich in den letzten Tagen schon herausgefunden. Also habe ich beschlossen, ab sofort verstärkt die Karl-Holger-Version zu verwenden. »Die Sicht ist bombig. Wollen wir rüber zum Turm?«
»Du meinst wohl Ulbrichts Zeigefinger, oder? Das war nämlich einer der vielen DDR-Spitznamen für den Turm. Beliebt waren auch Telespargel, Gottesrakete oder – nicht jugendfrei – Renommierpimmel. Walter Ulbricht – bekanntlich der Lügenvogel, der unmittelbar vor dem Mauerbau sagte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen – hat den Prestigebau, der mit 368 Metern immerhin das höchste deutsche Bauwerk ist, 1969 nämlich als Staatsratsvorsitzender eröffnet. Die Metallfassade der Kugel wurde nach dem Vorbild des sowjetischen Satelliten Sputnik gestaltet und sollte die technologische Überlegenheit des Sozialismus symbolisieren. Extrem lustig ist, dass immer wenn die Sonne die Kugel anstrahlt, eine Reflexion in Form eines Kreuzes erscheint. Der sozialistische Volksmund hat dieses unbeabsichtigte Lichtphänomen die Rache des Papstes getauft. Ulbricht soll über die Reflexion so erbost gewesen sein, dass die Architekten nicht zur Eröffnungsfeier eingeladen wurden.«
»Hallo! Hallo! Tower an Karl: Möchten Sie jetzt an Höhe gewinnen? Bitte kommen.«
Er schaut mich an, grinst und klappt sein Buch zu. Dann staucht er den armen, bei uns entliehenen und seitdem bereits arg in Mitleidenschaft gezogenen Stadtplan ohne Rücksicht auf Verluste in seinen Brotbeutel. Ich werde nach Karls hoffentlich baldiger Abreise einen neuen Plan kaufen müssen – und wenn unser nächster Besucher wieder aus Schwaben kommt, dann vermiete ich ihn.
Wir gehen die wenigen Meter quer durch den Bahnhof Alexanderplatz. Prompt stößt an einer unübersichtlichen Ecke ein Typ mit mir zusammen, verschüttet seinen gesamten Kaffee und saut damit meine brandneue Jacke ein. Sofort bildet sich eine Menschentraube (erst hektiken alle immer durch die Gänge, als hätten sie zu Hause den Herd angelassen, aber kaum passiert etwas, hat plötzlich jeder Zeit wie Heu) und es entsteht großes
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