Berlin - ein Heimatbuch
»Sie hören dann von uns.«
Keine Stunde später habe ich meine wackere alte Kawasaki wieder und könnte vor Glück ganz Berlin umarmen. Wie ein Frischverliebter sehe ich die Stadt mit ganz neuen Augen und nehme zum ersten Mal ernsthaft wahr, was für ein Hingucker die Oberbaumbrücke eigentlich ist: neugotisch in rotem Backstein, mit den beiden mehr als 30 Meter hohen Türmen auf dem mittleren Brückenbogen, die auf ihren Spitzen Reliefs des Berliner Bären und des Brandenburger Adlers tragen. Ich erinnere mich, im Deutschlandfunk mal gehört zu haben, dass die beiden Türme Vorbildern in Prenzlau und Kyritz nachempfunden sind. Erstaunlich, was man sich manchmal für seltsame Details merkt. Ebenso erinnere ich, dass der Name von früher über die Spree führenden begehbaren Holzstegen herrührt. Nur in der Mitte der Stege ließ man einen schmalen Durchlass, um von den passierenden Kähnen Zoll kassieren zu können. Nachts wurde der Durchlass mit einem dicken, mit Eisennägeln bewehrten Stamm verschlossen, dem sogenannten Baum. Den im Westen nannte man Unterbaum, den östlichen dagegen Oberbaum. Allerdings befand sich der Steg einst viel weiter in Richtung der heutigen Museumsinsel.
Nach einem kurzen Stopp am Motorradladen, wo ich mir ein neues Schloss besorge, parke ich meine Herzensmaschine auf der Kreuzberger Seite der Brücke, direkt unter der Hochbahn, und achte beim Anketten sorgfältig darauf, nicht noch einmal einen derart dummen Fehler zu machen.
Während ich zu Fuß über die Brücke gehe, lacht mich ein Plakat an, das für die diesjährige »Gemüseschlacht« wirbt. Ein von manchen auch »Wasserschlacht« genannter Wettkampf zwischen den beiden durch die Oberbaumbrücke verbundenen Stadtteilen Friedrichshain und Kreuzberg, der seit 1998 jeden Sommer auf der Brücke ausgetragen wird. Neben Ort und Datum nennt das Plakat auch die Spielregeln der »Schlacht«: Zugelassene »Waffen« der trotz des martialischen Namens eher spielerischen Veranstaltung sind unter anderem Eierkatapulte, selbst gebastelte Wasserwerfer, Mehlbomben und Schaumstoffschlagstöcke. Erlaubt ist alles, was matschig ist sowie glibbert, wabbelt und stinkt. Bei der Schlacht geht es darum, dass sowohl Friedrichshain als auch Kreuzberg den jeweils anderen Stadtteil als abtrünnig ansehen und diese eigenmächtige Abspaltung als eindeutigen Verstoß gegen das Völkerrecht geißeln. Für Friedrichshainer ist Kreuzberg in Wahrheit »Unterfriedrichshain«, während echte Kreuzberger Friedrichshain nur als »Ostkreuzberg« kennen. Erklärtes Ziel der Auseinandersetzung ist, die Einheit der beiden Stadtteile – selbstverständlich unter eigener Führung – wiederherzustellen. Die Friedrichshainer Seite fordert seit einiger Zeit zusätzlich die Unabhängigkeit von Berlin und der Bundesrepublik Deutschland sowie den Austritt Groß-Friedrichshains aus der NATO. Angeblich objektive Beobachter, die aber leicht als bezahlte Spitzel Friedrichhains zu identifizieren sind, behaupten so penetrant wie wahrheitswidrig, dass die Schlachten der letzten Jahre ausnahmslos von der Ostseite gewonnen wurden. Als tatsächlich neutraler Neuköllner sehe ich deutlich ein dauerhaftes Unentschieden. Trotz allen sportlichen Ehrgeizes kam es übrigens bislang zu keinerlei Gewaltexzessen, was den Ruf Berlins als gefährliche Krawallstadt widerlegt. Der sich eh allein aus den rituellen Kreuzberger »Maifestspielen« zum Tag der Arbeit speist.
Der einzige kuriose Zwischenfall der bisherigen Gemüseschlachten ereignete sich 2004, als ein schlecht gelaunter Polizist einen 15-jährigen stockbraven Gymnasiasten aus Hellersdorf anzeigte, der ihm ein rohes Hühnerei ans Hosenbein geworfen hatte. Der Richter beließ es zum Glück bei der eher symbolischen Strafe von acht Stunden gemeinnütziger Arbeit.
In Sichtweite zur Brücke steht im Flussbett Richtung Treptow die höchste Statue Berlins: die haushohen »Molecule Men« des amerikanischen Künstlers Jonathan Borofsky; 30 Meter ragt das Trio aus der Spree. Die drei Metallmänner sollen das friedliche Miteinander der drei Stadtteile Treptow, Friedrichshain und Kreuzberg symbolisieren. Mit der Unzahl an Löchern in ihren Körpern sehen die Typen allerdings eher aus, als wären sie in einen brutalen Schusswechsel rivalisierender Mafiabanden geraten.
Während ich noch im Glücksgefühl wiedererlangter Liebe schwelge, melden sich unterschwellig doch schon wieder die Sorgen um meinen schwäbischen Adoptivgast. Wo mag der wohl
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