Berlin - ein Heimatbuch
sein?
Ich wandere langsam zur Mitte der Brücke und stelle fest, dass dies hier die reinste Partymeile ist. Durch die Luft wummern elektronische Beats, überall finden sich Leute, die Bier trinken, neben solchen, die tanzen, und anderen, die beides versuchen. Über allem liegt der unverkennbare Geruch von Cannabis. In einer der zahlreichen Gewölbenischen, aus der eine besonders penetrante Duftwolke herüberweht, entdecke ich Karl. Auf dem Boden hockend ist er mit einem Punk, einem Rastaman und zwei Skins in ein offenbar sehr intensives Gespräch verwickelt. Jedenfalls bemerkt er mich nicht, obwohl ich ihm praktisch direkt gegenüberstehe. Nachdem ich ihn ein paar Minuten interessiert beobachtet habe, ohne zu verstehen, worum sich die angeregte Diskussion eigentlich dreht, beschließe ich, ihn nicht zu stören und allein nach Hause zu fahren. Irgendwie habe ich das Gefühl, der Exilschwabe ist in diesem Moment tatsächlich mit Haut und Haar in Berlin angekommen. Jetzt muss ich nur noch überlegen, wie ich das eigentlich finde.
Lost im Reichstag
Noch drei Tage nach diesem Erlebnis liegt mir Karl in den Ohren, was für eine lockere und faszinierende Stadt Berlin doch ist. Um ihn ruhigzustellen, habe ich ihn für einen Reichstagsbesuch angemeldet. Dafür gibt es zwei Gründe – erstens: Er ist dann mindestens zwei Stunden beschäftigt, ohne dass er mir auf die Nerven gehen kann, und zweitens: Na gut – er ist dann mindestens zwei Stunden beschäftigt und geht mir nicht auf die Nerven.
Sie könnten jetzt schlecht von mir denken, liebe Leser, aber ganz ehrlich – wenn sie Karl persönlich kennengelernt hätten, würden sie ihn nicht nur für eine Reichstagsführung anmelden, sondern für zwei – hintereinander. Wenn er wieder einmal einen seiner ungefragten Vorträge hält, möchte ich inzwischen entweder ihn oder mich in die Spree stürzen. Und da die Spree nirgendwo in Berlin sonderlich tief ist, ihn oder mich vorher mit Betonschuhen ausstatten, damit die Aktion auch nachhaltig ist. Aber wenn es mich trifft, muss die traurigste Ehefrau von allen am Ende Karl heiraten, und mein Sohn wird von einem besserwisserischen Sprücheklopfer aufgezogen. Wenn Sie sich jetzt fragen, wo da der Unterschied zu mir sein soll, schlage ich vor, wir treffen uns auf der Brücke, die die Parlamentsgebäude Paul-Löbe-Haus und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus verbindet, und reden in Ruhe. Vergessen Sie Ihre Betonschuhe nicht! Die Brücke führt im sechsten Stock über die Spree, das Geländer ist niedrig und durchsichtig, und so manche Politikerkarriere wurde schon dadurch verhindert, dass der angehende Volksvertreter diese furchterregende Überquerung scheute. Im Winter, wenn die Brücke vereist ist, freuen sich allüberall schon die Nachrücker auf den Landeslisten. Hieß es in der Berliner Politikszene früher: »Knallt der Jumbo auf die Piste, freut sich der nächste auf der Liste«, sagt man heute: »Über diese Brücke musst du gehen, diese Rutschpartie überstehen«
Ich habe Karl über den Besucherdienst des Deutschen Bundestages angemeldet. Man muss nur die 030 / 2270 anrufen und den Besucherdienst verlangen. Die sind sehr nett. Einzelpersonen und kleine Gruppen haben meist kein Problem, auch kurzfristig an einer Plenarsitzung teilzunehmen oder sich in sitzungsfreien Wochen die Abläufe erklären zu lassen. Man muss sich nur ein paar Tage vorher anmelden und den Personalausweis mitbringen. So eine Führung ist bestimmt sogar für einen Schlaumeier wie Karl interessant.
Und ich bin ihn los.
Als ich ihn nach unserer gemeinsamen Anreise mit dem 100er-Bus zum Besuchereingang am Westportal begleite, bleibt Karl urplötzlich stehen und dreht sich um. Das macht er so unerwartet, dass ich in seinen beachtlichen Bauch stolpere. Eines muss man dem Sonderschwaben lassen – er fühlt sich so weich an wie die große Matratze im Sportunterricht. Als Schüler war mein größter Traum, einmal auf dieser riesigen Matratze zu übernachten. Aber das hat leider nie geklappt. Dafür übernachtet Karl bei mir – ist das ausgleichende Gerechtigkeit? Oder nicht doch eher doppelte Bestrafung?
In diesem Moment merke ich, dass ich die ganze Zeit versonnen über Karls Bauch streichele.
Was ist los mit mir? Habe ich unbewusste erotische Fantasien wegen des Spätzleessers? Das müsste dann aber eine schwerwiegende Form des Stockholm-Syndroms sein.
Stockholm-Syndrom: Sie erinnern sich?
1973 nahmen Bankräuber in der schwedischen Hauptstadt mehrere
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