Berlin - ein Heimatbuch
Danach, schon ein klein wenig hektischer, nach rechts. Und nach vorne. Anschließend in wachsender Panik einmal nach oben. Und einmal nach unten. Und bin wie vom Schlag gerührt. Der Plappervogel ebenso.
»Sag mal, Murat. Hattest du hier nicht vorhin dein Motorrad angekettet?«
Die Welt wäre ein angenehmerer Ort, würden sich unsere Mitmenschen nach jeder dummen Frage für mindestens einen Tag in Luft auflösen.
Besondere Gedenktage der DDR
Auch wenn das Leben in der DDR allgemein als grau und wenig fantasievoll diffamiert wurde: Das Land hatte auf jeden Fall ein Faible für außergewöhnliche Gedenktage. Hier nur eine klitzekleine Auswahl:
Tag des Lehrers (12. Juni)
Tag des Ministeriums für Staatssicherheit (8. Februar)
Tag der Werktätigen der Wasserwirtschaft (dritter Samstag im Juni)
Tag der Werktätigen der Leicht-, Lebensmittel- und Nahrungsgüterindustrie (dritter Samstag im Oktober)
Unterbaum und Oberbaum
Ich kann es einfach nicht fassen. Meine treue, geliebte Kawasaki. Kurzerhand weg. Geklaut von irgendwelchen geldgierigen gefühllosen Schiebern. Die Idioten haben offensichtlich das Kettenschloss durchtrennt, denn klägliche Reste davon liegen noch im Gras. Allerhöchste Zeit, das Eigenheim zum Verkauf zu stellen und den sofortigen Umzug nach Bad Kissingen in die Wege zu leiten.
»Ganz schön heißes Pflaster hier, Mannomann.« Karl ist sichtlich geschockt. »Und das am helllichten Tag. Ist ja die reinste Bronx hier. Du musst unbedingt die Polizei anrufen.«
Dieser Witzvogel ist definitiv nicht mehr tragbar. Lernfähigkeit gleich null. Hatte ich ihm nicht schon bei dem peinlichen Klau am Alexanderplatz zu erklären versucht, warum meine ehemaligen Kollegen keine realistische Option für mich sind? Die geiern sich doch schier weg, wenn sie mitbekommen, wie ungenügend ich meinen Feuerstuhl gesichert habe. Und aus professioneller Erfahrung weiß ich, wie gering die Chancen auf das Ergreifen der Täter oder gar eine Wiederbeschaffung meiner Traummaschine sind. Kaum zu glauben, dass ich gestern fast so etwas wie froh war, den altklugen Schwabenhammel wiederzusehen. Was der mir schon alles angetan hat: Geld weg, Kawasaki weg. Fehlt nur noch, dass meine Frau und meine Tochter mich ebenfalls verlassen. Bevor das passiert, muss erst einmal dieser Geburtsgreis verschwinden.
»Weißt du was, Karl-Holger? Mach doch einfach mal die Mücke. Warum gehst du nicht schlicht mal ein Stück die Straße runter. Mindestens bis zur Oberbaumbrücke, hm? In deinen unbedarften Touri-Bibeln findest du womöglich sogar die ein oder andere belanglose Information darüber.«
Kaum habe ich den aufgestauten Dampf ein wenig abgelassen, bedauere ich den armen Irren fast schon wieder. Wie ein geprügelter Hund schaut er mich tief verletzt an. Gut, das ist jetzt wirklich nicht nett von mir und er ist auch nicht der, der mein Motorrad eingesackt hat. Zumindest nehme ich das an, denn ich hatte ihn ja jederzeit im Auge. Aber ich muss jetzt echt mal für mich sein und in Ruhe die Situation und die nächsten Schritte sondieren.
»Also gut, Murat. Wir sehen uns.« Mit belegter Stimme dreht er ab, winkt mir linkisch zu und marschiert in Richtung Oberbaumbrücke.
Obwohl er mir nun wirklich leidtut, wie er ganz offenkundig schwer getroffen dahinstapft und sogar wieder die Nummer mit dem Schnäuztuch abzieht, habe ich jetzt eindeutig Wichtigeres zu tun. Mit der Erfahrung meiner Polizeijahre untersuche ich akribisch und in aller Bedachtsamkeit den Tatort. Schon nach wenigen Augenblicken kommt mir ein ziemlich unangenehmer Verdacht, der mich nun doch zu einem Anruf bei der zuständigen Wache zwingt.
Und der meine Mutmaßung tatsächlich bestätigt. Es ist schon dämlich genug, sein Motorrad an ein Tor zu ketten. Aber an eines, das auch noch als Feuerwehrzufahrt dient, das ist schon dümmer, als die Polizei erlaubt. Ich stoppe das nächste Taxi und fahre zur Polizeidirektion in der Wedekindstraße. Und bin enorm erleichtert, dass keiner der Diensthabenden mich von früher kennt.
»Dumme Sache, muss ich schon sagen.« Der freundliche, aber recht gemütliche Beamte schaut in meine Papiere und sagt dann in einem bemüht langsamen Deutsch für Ausländer: »Herr Topal. Wohnen Sie schon lange in Berlin?«
Ich mache ein reuiges Gesicht. Und kann mir gerade noch verkneifen, so was wie » Isch Murat neu Berlin weißdu « zu antworten.
»Ihr Motorrad wurde sichergestellt. Können Sie hier abholen.« Er kritzelt eine Adresse auf ein Notizblatt.
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