Berlin - ein Heimatbuch
Berliner Mauer ist. Da die NVA, die Nationale Volksarmee der DDR, diesen Abschnitt der Mauer damals komplett unter Bewachung hatte, war sie 1989 bei der Wende noch jungfräulich unbemalt. Im Gegensatz zum Rest des sich durch die gesamte Stadt ziehenden Bauwerks, das Hobbykünstler auf der Westseite mit Graffiti und Kommentaren aller Art verziert hatten. Kein Wunder, war dies doch ein perfekter Malgrund – wobei man das Wort »Malgrund« im wörtlichen wie im übertragenen Sinn verstehen kann. Denn was animiert Kreative eher zur Transformation als ein trister Untergrund? Das ist vielleicht auch die Ursache dafür, dass die DDR solch fantasievolle Gedenktage entwickelte (siehe Besondere Gedenktage der DDR ).
»118 Künstler aus 21 Ländern haben hier mitgewirkt!«, ist Karl glücklich, seine neu eingelesenen Daten herausposaunen zu können.
»Kann sein«, widerspreche ich ihm nicht. »Was ich aber vor allem bemerkenswert finde, ist, dass es sich hier nicht um eine der sonst üblichen Sponti-Aktionen handelte. Also kein Gruppen-Graffiti oder so was. Ganz im Gegenteil: Es war sozusagen ein offizieller Auftrag des Ministerrates der DDR, der die East Side Gallery ins Leben gerufen hat.«
»Echt? So weit bin ich gerade beim Lesen nicht mehr gekommen.«
»Deswegen erzähl ich’s dir ja. Oder glaubst du nur an Fakten, die du selbst gelesen hast? Die Idee entstand aus dem Zusammenschluss des westdeutschen Bundesverbands Bildender Künstler und Künstlerinnen mit dem Verband bildender Künstler der DDR. Als erstes gemeinsames Projekt sollte ebendieser noch vollständig nackte Teil der Mauer von Künstlern aus aller Welt bemalt werden. Was der Ministerrat dann halt genehmigt hat.«
»Ein echter Treppenwitz der Weltgeschichte. Erst eine solche Schreckensmauer hochzuziehen, um sie am Ende offiziell zur Bemalung freigeben zu müssen.« Recht hat er, der Schwoab. Könnten die Armeen dieser Welt für ihre Panzer auch ruhig in Erwägung ziehen.
Wir wandern die Bilder ab und diskutieren über Stil, Inhalt und Geschmack. Der durch die Mauer brechende Trabi ist Karl, wie zu erwarten, ein Extra-Foto wert. Mir ist das gefühlt auf jeder dritten Berlinpostkarte vermarktete Motiv inzwischen ein bisschen zu abgegriffen.
»Ich habe gelesen, dass die Galerie praktisch direkt nach der Fertigstellung unter Denkmalschutz gestellt wurde«, meint mein humanoider Datenspeicher. »Und restauriert wurde sie auch schon mal komplett, im Jahr 2000. Ganz schöner Aufwand.«
»Ja, so ist das, wenn Kunstwerke nackt dem Wetter und den Abgasen ausgeliefert sind. Warum werden wohl alle Nase lang irgendwelche alten Kirchen eingerüstet und mühsam restauriert? Nichts ist für die Ewigkeit. Ich finde aber gut, dass man die Bilder hier vor spontaner Nachbearbeitung schützt.«
»Was meinst du mit Nachbearbeitung?«
»Es soll ja Leute geben, die meinen, alles besser zu können.« Ich bemühe mich, ihn bei diesem Satz nicht anzuschauen. »Die versuchen dann, Bilder mit der Spraydose zu verschlimmbessern. Zum Glück ist die Galerie durch einen unsichtbaren Schutzlack gesichert – der hat sich auf jeden Fall bewährt.«
Karl lässt seine meckernde Lache hören.
»Na, mit dem Lack müsstet ihr ja angesichts eurer hyperaktiven Sprayer sämtliche Gebäude der Stadt einnebeln.«
Typisch Provinzspießer. Natürlich sind viele der Hauswand- oder U-Bahn-Graffiti eher Sachbeschädigung als Kunst. Aber auch, wenn ich das als ehemaliger Ordnungshüter vielleicht anders sehen müsste: Es bringt ja nichts, das Kind zusammen mit dem Bade auszuschütten. Es gibt eben auch Sprayer, die mehr Künstler als Vandalen sind. Eine Gesellschaft ohne kreative Freiräume ist tot. Also sind Graffiti legitimer Teil der Jugendkultur. Nichts gegen den heimeligen Charme von Kurorten. Aber alles in allem lebe ich halt doch lieber in einer lebendigen und widersprüchlichen Stadt wie Berlin als in, sagen wir mal, Bad Kissingen.
Und um noch einmal auf die East Side Gallery zurückzukommen: Die ist ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des hauptstädtischen Erscheinungsbildes, ein knallbunter und witziger Kommentar zur Zeitgeschichte. Oder prägnanter gesagt: eine Moritat zur Wende.
All dies denke ich auf dem Rückweg Richtung Oberbaumbrücke, während der Reiseführer-Papagei an meiner Seite wieder einmal lautstark sein aufgeschnapptes Wissen herauskrächzt.
Geistesabwesend fummele ich den Schlüssel für das Kettenschloss aus meiner Jackentasche. Und schaue dann nach links.
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