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Berlin Fidschitown (German Edition)

Berlin Fidschitown (German Edition)

Titel: Berlin Fidschitown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D B Blettenberg
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Dunkelheit sahen die sterblichen Reste seiner Kämpfer das fahle Licht eines kurzen Wintertages, durchlüftet von Böen, die minus zwölf Grad Celsius zu zwanzig machten.
    Der Wind hat es fortgeblasen.
    So hieß es in der alten Weise aus seiner Heimat. Jedes Mal, wenn das Mädchen nach Hause kam, wurde es von seinen Eltern gefragt: „Wo ist dein Ring, dein Hemd, dein Hut?“ Und das Mädchen antwortete: „Während ich die Brücke überquerte, blies der Wind sie weg.“ Es war eine Lüge aus Liebe, denn sie hatte all diese Dinge ihrem Geliebten gegeben – als Beweis ihrer Zuneigung.
    Captain Nguyen Van Giang alias „Anh Ham“ setzte den Deckel wieder auf die Urne. Er klemmte den Behälter unter den Arm, vergrub die Hände in den Taschen seiner Daunenjacke und starrte eine ganze Weile lang in das himmelblaue Schwimmbecken, das ohne Wasser tief unten im Park lag. Was suchte er hier? Was hatte der Frost ihm zu bieten? Was machte den Reiz dieser weißen Decke aus Schnee und Eis aus, die wie eine dicke Haut über seinem Reich und auf seiner Seele lag? Sein Reich war die Unterwelt. Dort war es wärmer, aber auch stickig. Seine Seele hingegen atmete und war noch bei ihm. Wie lange noch? Mochten die Ahnen es entscheiden. Er diente ihnen. Wem sonst? Noch in dieser Nacht wollte er Rache für seine ermordeten Männer nehmen.
    Die ersten Flocken taumelten durch die Nebelfetzen, die sein Atem in der bitterkalten Luft hinterließ. Er drehte sich um und musterte die verlassenen Nester in den kahlen Baumwipfeln. Sie erinnerten ihn an eine Schlagzeile in der Morgenzeitung. „Wilde Krähen fressen sich um ihre Freiheit!“ Der Winter trieb die Vögel in den Zoologischen Garten. Dort schlüpften sie durch die engen Maschen der Greifvogelvoliere und fraßen ihren gefangenen Artgenossen das Futter weg. Die eigene Gier versperrte ihnen den Rückweg. Dick aufgebläht blieb ihnen nichts anderes übrig, als im Käfig zu verharren. An die hundert ungebetene Gäste leisteten den Geiern schon Gesellschaft.
    Langsam ging der Captain die Brüstung entlang. Schließlich blieb er stehen und sah den Ameisen zu, die unter seinem Ausguck in das riesige Einkaufszentrum Gesundbrunnen strebten, um ihre Weihnachtsgeschenke umzutauschen. Es waren diese Deutschen, denen das Land gehörte. Sie waren so stolz auf ihre Weltstadt. Selbst diejenigen Berliner, die unentwegt auf ihre Mutterstadt schimpften, waren ihr in Hassliebe verbunden. Dabei kannten sie sie gar nicht. Sie bildeten es sich zwar ein, doch ganze Teile der Metropole waren ihnen unbekannt – und die wenigen Bürger, die etwas darüber wussten, ignorierten und verdrängten es. Ihm sollte es nur recht sein. Die Oberfläche, an der sie sich berauschten, bestand aus großen Zonen würdeloser Zementarchitektur und schmutziger Baustellen, die sich in diesem Winter in Schneehalden und Eisberge verwandelten. Die Spree floss bleigrau durch Kanäle, an deren Ufern sich Eisschollen zusammenschoben. Die öden Höhepunkte des Baustellentourismus, der Busladungen aus ganz Europa anzog, lagen aufgerissen, zerwühlt und teilgeflutet mitten im Herzen der Stadt, bedeckt von Gerüsten, Wohncontainern und Kränen, wie ausgebombte Vergnügungsparks, in denen die Ruinen des Fortschritts unter Puderzucker-Make-up verrotteten.
    Und da, tief unter ihm, hetzten die Bewohner der Oberwelt von einem Termin zum nächsten – sogar in ihrer Freizeit. Sie zogen es vor, in Eile voranzukommen, wohin auch immer. Sie hielten das für Leistung, bewegten sich immer schnell und gestresst auf etwas zu, über das sie nicht näher nachzudenken schienen. Getriebene, vereint in Bewusstlosigkeit. Sie beteten das Geld an und beriefen sich auf den Zeitgeist.
    Der Captain lächelte.
    Er wusste, was ein Geist war.
    Ein Geist hatte nichts mit der Gegenwart zu tun. Ein Vietnamese achtete die Geister, so wie er die Ahnen verehrte. Die Vergangenheit war die Zukunft. Diese Deutschen verstanden nichts. Ihr Zeitgeist war eine kurzlebige Ratte. Aber so war das mit den Christen. Sie hatten Angst vor dem Teufel. Mit Recht. Der Teufel schlief nie. Aber Gott schlief am Sonntag.

23
    Vorsichtig stieg Heliane Kopter die Stufen hoch, dem signalrot leuchtenden Schalterknopf entgegen, denn wieder hatte ihr der verhasste Zeittaktschalter einen Streich gespielt.
    Sie spürte etwas und verharrte.
    Ein Schatten. Er bewegte sich.
    Die Flurbeleuchtung flackerte wieder auf.
    „Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt“, sagte der Mann mit einem fremden Akzent

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