Berlin Gothic 6: Die versteckte Bedeutung (Thriller)
Müllkippe geworfen wird, wo es aus seinen trüben und doch nicht toten Augen den erstbesten anschaut, der darüber hinwegwandert, als wollte es ihm zurufen: Kannst DU mich nicht vielleicht ein wenig gebrauchen? Willst DU mich nicht mitnehmen? Ich bin nicht schlecht, weißt du? Es war nur Pech. Ich habe mir immer Mühe gegeben …
Irritiert wischte sich Max über die Stirn. Er spürte, wie er den Dreck, den er von der durchwachten Nacht noch an den Händen hatte und der von den kleinen Schweißperlen an seinen Schläfen aufgeweicht war, zu einem dünnen Schmutzfilm über die Stirn verrieb.
„Ich kann das so schnell nicht hier, auf der Straße … “, murmelte er und hielt plötzlich, fast ohne dass er bemerkt hätte, wie er danach griff, das Papier in den Händen, das der andere aus seiner Tasche hervorgeholt hatte.
Herrn Lennart Boll stand oben auf der Anschrift.
Lennart Boll.
Ich nehme ihn kurz zu mir hoch, wir sehen uns das rasch an, vielleicht machen wir ein Telefonat, dann kommt der Mann wieder auf die Beine, dachte Max.
Das kann ich machen.
Er hob den Blick und lächelte. „Wollen wir kurz zu mir gehen? Ich wohne gleich hier.“ Er nickte zu dem Haus neben der Kirche, das sich auf der anderen Seite des Platzes befand.
„Wäre das möglich?“ Bolls Augen blinkten.
Ist er nicht schön, dachte Max. Sieht er nicht schön aus, so ein Mensch, egal wie abgehalftert er ist, wenn er sich freut? Ist das nicht ein Wunder?
Und schon drehte er sich um, um die Straße an der Ampel endlich zu überqueren.
Ich kann das, sagte sich Max. Ich bin frei. Ich sollte das nicht machen? Quatsch! Was ist schon dabei? Einem anderen helfen! Ist das nicht sogar meine Pflicht? Ist es nicht unerträglich, es nicht zu tun?
2
Es ging um seine Versicherung. Boll hatte sie vor vier Jahren gekündigt, um Geld zu sparen. Die Krankenversicherung. Jetzt wollte er das wieder rückgängig machen, aber das war teuer.
„Das kann doch nicht sein“, er sah Max an wie ein verwirrtes Kind. „Die können mich doch nicht einfach hängen lassen!“ Und dann: „Ich hab das Geld nicht, was soll ich denn machen?“
Eine Zeitlang hatte Max sich alles angehört.
„Ich hab dort angerufen, aber die schicken mich von einem zum anderen. Erst nimmt keiner ab, dann ist es der Falsche, dann ist einer im Urlaub, der andere in der Mittagspause. Das ist doch nicht meine Schuld!“
Max wusste, was Boll meinte. Teufelskreis, Schieflage, wie auch immer man es nannte: Wenn das Leben an einer Stelle zu rutschen anfing, konnte es schnell passieren, dass die Neigung immer steiler wurde. Je länger Max mit ihm sprach, desto deutlicher wurde es für ihn, dass Boll nicht wirklich Unsinn daherredete. Im Gegenteil: Wenn man sich einmal auf seine Sichtweise einließ, machte das, was er sagte, durchaus Sinn. Man konnte ihn verstehen - oder zumindest Max konnte das. Außerdem hatte Boll, wie Max bald erfuhr, Sachen erlebt, die auch einen robusteren Kerl hätten umhauen können. Ein Aufenthalt in der, wie er sagte, ‚Forensik‘, was bedeutete, dass er - und auch das begriff Max erst auf Nachfrage - ein paar Monate in einer Anstalt für psychisch kranke Straftäter verbracht hatte. Dabei hatte er eigentlich immer davon geträumt …
„Klar“, sagte er und ließ Max nicht aus den Augen, „wenn man mich jetzt vor sich sieht, kommt einem das vollkommen absurd vor. Aber damals, vor sechs oder sieben Jahren? Ich war jung, sah nicht mal schlecht aus!“
Er hatte immer davon geträumt, Schauspieler zu werden. Und als er Max jetzt davon berichtete, rollte er mit den Augen und seine Stimme schwoll bedrohlich an. Auch wenn es ein bisschen merkwürdig aussah, als er wie ein Hahn mit stolzgeschwelltem Kamm durch die Wohnung schritt, konnte Max sich der Dramatik, die Boll dabei ausstrahlte, nicht entziehen. Ja, Max glaubte regelrecht sehen zu können, wie Boll sein Leben versprühte, als er ihn anstarrte und brüllte: „Es hat nicht geklappt, verstehst du? Ich bin in die Theater gegangen, hinausgeworfen worden und zurückgekrochen, habe vor der Tür des Intendanten gewartet. Aber sie wollten mich nicht!“ Und dann grinste er. „Aber wieso? Bin ich wirklich so schlecht?“
Eigentlich hatte Max nur kurz bei Bolls Versicherung anrufen wollen. Aber je länger er ihm zuhörte und den Anruf aufschob, desto klarer wurde ihm, dass er wahrscheinlich nicht wirklich etwas für den Mann tun konnte. Es sei denn … es sei denn, es gab eine Möglichkeit, zu einem
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