Berlin Gothic 6: Die versteckte Bedeutung (Thriller)
als auf seine neue Arbeit verzichten würde?
Der Gedanke fuhr ihr wie ein glühender Holzsplitter durch den Bauch. Mit einer heftigen Bewegung zog sie die Beine an, um den beißenden Schmerz abzuschütteln. Das konnte nicht sein! Sie konnte doch nicht am Morgen nach der ersten Nacht, die sie in seiner Wohnung miteinander verbracht hatten, argwöhnen, dass der Mann, den sie seit Jahren kannte und liebte, so niederträchtig sein würde! Aber was stellte Till sich denn vor? War es eben doch eine Art Schwäche von ihm, dass er darauf verzichtete, diese Dinge einmal konsequent zu Ende zu denken? Wie konnte er all das einfach so auf sich zukommen lassen?
Lautlos schob Lisa die Decke von sich und setzte sich auf die Bettkante.
Es hatte keinen Sinn, sich immer tiefer in diese Überlegungen zu verstricken! Entweder sie stellte Till zur Rede – oder sie verbannte diese Gedanken endgültig aus ihrem Kopf und konzentrierte sich vielmehr darauf, was sie selbst als Nächstes zu tun gedachte. Vielleicht war es ja wirklich das Beste, wenn sie Till noch ein wenig Zeit ließ, die Entscheidungen zu treffen, die er für richtig hielt!
Ihre Augen wanderten wieder zum Fenster. Das Morgenlicht hatte inzwischen den Sieg über das Dunkelblau der Nacht errungen. Am Abend zuvor hatte Lisa das Fenster einen Spalt offen stehen gelassen, und jetzt drang das Gezwitscher der Vögel, die sich aufgerufen zu fühlen schienen, das Ende des Winters anzukündigen, laut und geradezu aufpeitschend zu ihr herein.
Vorsichtig drehte sie sich um. Von Till war nur der Hinterkopf zu sehen, der aus der Bettdecke herausschaute. Das gleichmäßige Geräusch seines Atmens, das die ganze Nacht über wie eine ruhige Bestätigung an ihrer Seite zu vernehmen gewesen war, war jedoch nicht mehr zu hören.
War er ebenfalls wach?
Ihr Blick fiel auf den Wecker, der auf seinem Nachttisch stand. Kurz vor halb sieben. Ruckartig erhob sie sich und schloss das Fenster, durch das es kühl herein wehte.
Es war höchste Zeit, dass sie nach Hause kam, bevor Felix dort anrief.
3
Tills Apartment lag in Schöneberg, so dass Lisa beschloss, mit der U-Bahn nach Mitte zu fahren. Als sie die Treppenstufen zu den U-Bahngleisen hinunterlief, stand ihr Entschluss fest: Sie würde nicht länger damit warten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Und sie wusste auch schon wie. Das Volontariat hatte ihr Spaß gemacht, also ging es jetzt darum, so schnell wie möglich mit der Arbeit bei einer Zeitung zu beginnen. Als Reporterin, in der Redaktion, wie auch immer - darauf kam es nicht an. Wichtig war vielmehr, dass es eine gute Zeitung war, kein zweifelhaftes Magazin, in dem irgendwelche Praktikanten Informationen aus dritter oder sechster Hand abschrieben. Nein, eine überregionale Tageszeitung, in dem gute Leute arbeiteten und wohlbedachte Meinungen veröffentlicht wurden. Ein Blatt, das in gewisser Weise Einfluss auf die Gesellschaft, auf den öffentlichen Diskurs, auf das Land hatte.
Sie schlenderte den Bahnsteig entlang. Drei Minuten. Die U-Bahn würde gleich kommen.
Lisa wusste auch schon, in welchem Ressort sie arbeiten wollte. Nicht im Feuilleton, wo sie über Theateraufführungen oder Ausstellungen zu berichten hätte, nicht im politischen Teil, nicht in der Klatschspalte, schon gar nicht im Sport und auch nicht im Wissenschaftsressort. Sie würde im Wirtschaftsressort arbeiten! Und zwar nicht, um Aktienempfehlungen auszusprechen oder irgendwelche Unternehmen hochzujubeln - sondern um einen Blickwinkel zu finden, aus dem heraus sie die Macht einer Vorstellung beleuchten könnte, die ursprünglich allein auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt gewesen war, inzwischen aber die ganze Welt unterwandert und durchdrungen hatte. Und zwar die Vorstellung der Gewinnmaximierung. Ja, jetzt, wo Lisa darüber nachdachte, kam es ihr fast so vor, als würde sich auch so etwas wie das gesellschaftliche Miteinander einer Stadt wie Berlin bei dieser Betrachtungsweise schlagartig als ein in sich logisches, kraftvolles Wesen entpuppen, dem nichts Willkürliches oder Überflüssiges mehr anhaftete, sondern das sich verstehen ließ als gleichsam übergeordneter Organismus!
Sie spürte, wie diese Vorstellung einer Stadt als Wesen sie beflügelte, und betrat den U-Bahnzug, der gerade in den Bahnhof gefahren war. Gedankenverloren ließ sie sich unter der verkehrsdurchtobten Oberfläche hindurch Richtung Norden transportieren.
Eine knappe halbe Stunde später schloss Lisa die Wohnung
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