Berlin Gothic 6: Die versteckte Bedeutung (Thriller)
stand, nicht beinahe unendlich schwer werden, sich wieder zu setzen? Denn dann würde er sich nicht erneut erheben können, bevor er etwas Vernünftiges zu Papier gebracht hatte! Würde er also nicht, wenn er sich jetzt erhob und dann wieder setzte, danach auf seinem Stuhl geradezu angenagelt sein, bis er fertig war? EGAL WAS KAM, egal wie schrecklich, quälend, unerträglich es sein würde: Er würde sich nicht NOCH EINMAL erheben können! Würde ihn dieses Bewusstsein aber nicht davon abschrecken, sich wieder hinzusetzen , wenn er sich jetzt erhob? War es also nicht umso schwerer, sich zum weiterarbeiten wieder hinzusetzen , als jetzt weiterzuarbeiten, indem er einfach sitzen blieb? Da er ja dann, wenn er jetzt sitzen blieb, sich immerhin noch einmal würde erheben können, ohne bereits etwas geschafft zu haben?!
Er atmete tief ein. Für einen Moment war es ihm so vorgekommen, als würden ihm seine Gedanken die Luft abdrehen. Gleichzeitig durchkreuzte noch ein anderer Einfall seine Überlegungen: Was war es denn eigentlich, was er heute geschafft hatte? Auch heute hatte er wieder nicht mit der eigentlichen Niederschrift begonnen, sondern nur den Plan noch einmal überarbeitet! Und schlimmer noch: Es war ihm auch diesmal wieder nicht gelungen, den Plan bis zum Ende durchzuschreiben. Ja, er war nicht nur nicht bis zum Ende gelangt - es war ihm noch nicht einmal gelungen, den Höhepunkt zu formulieren!
ICH MUSS SITZEN BLEIBEN!
Etwas schien in ihm zu reißen - weil er zugleich das geradezu lodernde Gefühl hatte, aufstehen zu müssen, und sich mit aller Kraft zwingen zu müssen, sitzen zu bleiben!
Er schüttelte sich, ließ den Kopf rollen. „Ruhig, beruhige dich, Max, es ist nicht so schlimm. Du hast alle Zeit, die du brauchst. Es läuft gut, es geht voran, du hast bereits einiges geschafft und machst jetzt einfach stetig weiter.“
Zurückgelehnt lag er in seinem Schreibtischstuhl. Gut. Er würde heute weiter kommen.
„Ich werde heute anfangen.“
GENAU. Das war es! Heute würde er mit der Niederschrift beginnen. Kein Plan, kein Höhepunkt - der erste Satz - die erste Seite!
Hastig schob er die handbeschriebenen Blätter auf dem Tisch zusammen, ließ sie zweimal senkrecht auf die Platte fallen, um einen ordentlichen Stapel daraus zu formen, und legte sie an die obere rechte Kante seines Schreibtischs. Dann beugte er sich zum Fußboden, auf dem das aufgerissene Paket mit dem Schreibpapier lag, fischte einen dünnen Packen Blätter daraus hervor und legte sie genau vor sich hin. Schließlich griff er nach dem Kugelschreiber und schrieb in die obere rechte Ecke eine Eins.
Nein, den Computer würde er jetzt nicht einschalten. Die unendlichen Möglichkeiten des Korrigierens, die das Schreiben am Computer mit sich brachte - allein beim Gedanken daran war ihm schon immer schwindlig geworden. Mit der Hand schreiben, blau auf weiß - das war es! Einmal niedergeschrieben stand ein Satz wie ein Baustein auf dem Papier und ließ sich so ohne weiteres nicht mehr ändern …
Titel? Seit Monaten schon waren Max die unterschiedlichsten Titel durch den Kopf gegangen, aber er hatte sich bisher noch für keinen entscheiden können.
Gut, das war jetzt auch nicht nötig. Er sollte sich nicht aufhalten lassen! Gleich ins erste Kapitel - oder würde es verschiedene Teile geben? Auch darüber hatte er sich bereits mehrfach Gedanken gemacht, jedoch keine definitive Entscheidung getroffen. Gab es Kapitel? Er konnte auch einen einzigen, langen Text machen - das war durchaus möglich, vielleicht sogar von Vorteil …
Egal egal …
Er machte eine abrupte Handbewegung, als wollte er die störenden, irritierenden Gedanken damit fortscheuchen.
Teile, Kapitel, Titel - das war doch alles nur Beiwerk! Worum es ging, war der Text! Der Anfang. Der erste Satz.
Steif und vornübergebeugt saß er über dem Blatt Papier.
Seite eins.
Er ließ den Blick verschwimmen und kehrte in Gedanken zu den Aufzeichnungen zurück, die er sich gemacht hatte. Zum Gerüst, dem Plan, dem Bauplan des Buches. Gut, er hatte das Ende noch nicht, auch den Höhepunkt nicht, den Fluchtpunkt, auf den alles zulaufen würde. Aber er hatte den Anfang.
Oder?
Er hatte den Anfang … nur wie sollte er vorgehen, wenn er den Fluchtpunkt nicht kannte? Wie sollte er sich in Bewegung setzen, wenn er die Richtung nicht wusste?
Egal egal … es ging doch nur darum, erste tastende Schritte zu machen. Er könnte ja alles, wenn es ihm nicht gefiel, später wieder verwerfen -
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