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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Sie Russisch? So ein Glück! Wir können die Tramhaltestelle nicht finden. Tram Nummer 4.
    Das ist auf der anderen Seite des Platzes. Kommen Sie mit!
    Wir schreiten über den Alex, rechts lassen wir den trockenen Brunnen der Völkerfreundschaft hinter uns, links das Hotel, das einst
International
hieß und das sich heute
Park Inn
nennt. Ich erzähle, dass dieser Platz ein wichtiger Verkehrsknoten, ein Nabel des ärmeren, östlichen Berlins war, ein Pendant zum respektablen Charlottenburger Bahnhof Zoo. Die drei kommen aus der tiefsten sibirischen Provinz, sind hier zu Besuch bei ihren Bekannten, ausgereisten Russlanddeutschen.
    Das Mädchen lobt unseren warmen Winter, unsere beleuchteten Hauseingänge, unsere Busfahrpläne. Während ich ihr zustimme, wundere ich mich, wie leicht mir mein
bei uns
über die Lippen geht, wenn ich über diese Stadt rede.
    Die älteren Herrschaften schweigen, das Mädchen dagegen wirkt sehr interessiert und plaudert ununterbrochen. Unter anderem fragt sie mich mehrmals, ob ich nicht bereue, meine Heimat verlassen zu haben, ob ich mich hier wohlfühle, ob ich hier glücklich bin. Laut einem ungeschriebenen Gesetz müssen wir Ausgewanderten unser Dasein in der Wahlheimat vor unseren Landsleuten immer loben. Ja, sage ich, ohne zu überlegen, automatisch, und dennoch entfaltet dieses Wort für einen Augenblick seine Magie und wird Fleisch: Ich sehe mich für eine Sekunde mit den Augen dieses provinziellen Mädchens, wie ich mit selbstbewusstem Schritt eine europäische Metropole durchmesse, selbst im Winter mit trockenen Füßen. – Ja, natürlich! Ich liebe diese Stadt und will nirgendwo sonst sein als hier.
    Wir sind auf der anderen, östlichen Seite des Platzes, wo ich nicht so oft bin.
    Was steht da geschrieben?, fragt das Mädchen und zeigt auf das lange mehrstöckige Haus, dessen Fassade mit Buchstaben übersät ist.
    Es ist ein Zitat aus einem Berlin-Roman.
    Darüber habe ich heute in meinem Reiseführer gelesen. Dass sich ein deutscher Architekt russischer Abstammung ausgedacht hat, die Fassade so zu schmücken. Ich meinte, können Sie es mir übersetzen?
    Da kriecht schon die Tram auf uns zu.
    Nächstes Mal, sage ich. Das Mädchen umarmt mich herzlich, seine Eltern schütteln mir die Hand. Sie steigen ein und sind weg. Ich schaue mir die beschriftete Fassade noch einmal an und setze langsam, wie eine Analphabetin, die meterhohen Buchstaben zu Wörtern zusammen:
    Eine Handvoll Menschen um den Alex. Am Alexanderplatz reißen sie den Damm auf für die Untergrundbahn. Man geht auf Brettern. Die Elektrischen fahren über den Platz die Alexanderstraße herauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Tor. Rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. Destillen, Restaurationen, Obst- und Gemüsehandel, Kolonialwaren und Feinkost, Fuhrgeschäft, Dekorationsmalerei, Anfertigung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät. Wiedersehen auf dem Alex, Hundekälte. Nächstes Jahr, 1929, wirds noch kälter. A. Döblin
.
    Und während ich das lese, erinnere ich mich, dass einmal in unserer Wohnung ein Mann herumgeirrt ist, ein Russe, der erzählte, er wolle bei der Ausschreibung zur Umgestaltung des Alexanderplatzes mitmachen. Er würde gerne die Häuser um den Platz mit Zitaten aus dem weltberühmten Roman beschriften, und er meinte, dass sein Projekt unbedingt gewinnen werde. Da in der russischen Diaspora Unmengen von Spinnern und Hochstaplern agieren, kicherten die anderen Gäste hinter seinem Rücken. Ich bedeutete ihm giftig, er möge weiter träumen. Jetzt starre ich in den verwirklichten Traum dieses Menschen, dem die Luft der Wahlheimat das Volumen des Brustkorbes vergrößert hatte, ihn freier atmen ließ, ihn beflügelte.
    Es schneit. Ich kehre zurück, überquere den Platz und biege in die Rosa-Luxemburg-Straße ein. Über der Volksbühne weht die rote Fahne, darunter wird in mannsgroßen Buchstaben auf einem Transparent das Stück ‚Elektrifizierung‘ angekündigt. Rechts vom Theater steht ein Glashäuschen, die Kassenbude, auf deren Dach ein kopfgroßes Eurozeichen schimmert, das aus versilberten, beweglichen Metallschuppen besteht. Die für unterjochte Proletarier gedachten Häuser – schmucklos, streng, monoton – sind nun von älteren Bürgern bewohnt, die hinter sauberen quadratischen Fenstern ihre Geranien züchten und ihre kleinen Spitzentischdeckchen

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