Berlin liegt im Osten (German Edition)
über den Köpfen der Passanten ausklopfen. Hier gibt es keine Geschäfte, keine Schaufenster, keine Wurstmenschen – es ist das stille, besonnene Pendant zum hektischen, gefräßigen Alexanderplatz. Das Karl-Liebknecht-Haus (ein verschlafener Bienenstock), das Kunstkino
Babylon
, sakrale Botschaften auf der hohen Stirn der Volksbühne – hier ist alles kühl, streng und aussagekräftig, wie im Ägyptischen Museum.
Ich gehe in die Linienstraße hinein. Eng und ruhig, ahmt sie den Verlauf der lauten Torstraße nach. Die im Krieg entstandenen Lücken sind sorgfältig mit DDR-Plattenbauten gefüllt, die einst begehrt waren und heute verachtet sind. In den verstaubten Waben leben heute jene Berliner, die mit ihrer Stadt nicht mehr Schritt halten können, da ihre Füße immer noch in der Vergangenheit hängen. Die Männer tragen je nach Saison ein weißes Unterhemd oder eine Pelzmütze, die Frauen ärmellose Arbeitskittel aus einem synthetischen Stoff, ätzend blau mit kleinen roten Blümchen. Sie sitzen tagelang auf ihren Balkons zwischen Geranien und Zwergen und rauchen. Dann nehmen sie ihre geräderten Taschen und laufen zu
Aldi
die unendliche Torstraße entlang. Sie haben viel Zeit und bleiben öfter vor den geschmückten Schaufenstern stehen, so wie auch ich: Latexwäsche, Sexspielzeuge, tätowierte Waden, gepiercte Brustwarzen, Proteinnahrung in Bottichen,
Nail Studios
… Was machen wir mit unserem Wohlstand und unserer Freiheit?
Nördlich der Torstraße aber liegt ein Land, wo alles stimmt: Prenzlauer Berg. Die Spitze des Berges bewohnen die anmutigen Menschen, die aus ihrem Wohlstand und ihrer Freiheit ein erstklassiges Glück melken. Sie brauchen sich nicht die Nabel und Brustwarzen zu durchbohren, um sich zu behaupten. Sie bremsen ihre geräuschlosen Porsches vor Fußgängern und Fahrradfahrern und gefallen sich dabei sehr. Sie kaufen in Bioläden ein und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie wieder mal vor dem tristen Winter nach Teneriffa fliehen. Laut Legende schreien sie sich gegenseitig nie an und siezen ihre Putzfrauen und Babysitterinnen. Ich liebe es, durch dieses Wunderland zu wandern, wo nicht nur die Menschen, sondern auch die Flora Erstklassiges zeigt. Nach der Wende gepflanzt, blühen im Frühling in der Lottumstraße exotische Kirsch-Bäume, der Wasserturm ist im Sommer von duftenden Rosen umsäumt, die Knaackstraße ist mit edlen Ginkobäumen geschmückt, die mit ihrem hellen, gelben Laub die trüben Herbsttage beleuchten. Da bleibe ich oft vor einem Eltern-Kind-Café stehen, vor seinen großen sprossenlosen Fenstern, wie vor einer Vitrine oder einem Aquarium mit langsam sich bewegenden exotischen Fischen: Artige Eltern sitzen mit einem Buch vor ihrer Tasse Kaffee oder reden miteinander, während ihre Kinder auf dem Wollteppich mit den Holzklötzen spielen.
Ich habe nicht bemerkt, wie meine verträumten Füße mich zum Haus von Herrn Seitz gebracht haben. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Straßenseite und kann gut sehen, dass seine Fenster dunkel sind. Da wende ich mich dem Schaufenster eines Trödlers zu. Darin gibt es eine filigrane Puppenstube mit einem Flügel und einer Beethoven-Büste, nicht größer als ein Daumennagel, einen Porzellan-Welpen, eine Fotokamera
Kiev 88
, Schlüsselanhänger ohne Schlüssel, Armbanduhren, ausgelegt wie frisch geangelte Fische, Broschen mit trüben Steinpupillen, verwitwete Eheringe – all die nutzlosen Dinge schimmern im Dunkeln antik und wichtig. Meine Finger sind taub vor Kälte, und während ich nach meinen neuen grauen Handschuhen in die Tasche greife, steht plötzlich ein Mann neben mir.
Kalt, nicht wahr?, sagt er, lächelt und steckt die Hände in die Sakkotaschen. Dabei ziehen sich seine Schultern hoch und werden schmäler. Er hat ein Tweedsakko mit Fischgrätenmuster an, ein dicker Schal ist leger und elegant um den Hals gebunden. Ein weicher, grauer Kaschmirschal, dezent und teuer.
Ja – meine Kehle ist plötzlich trocken, die Stimme rau, vor Beklommenheit neige ich mich näher zur Glasscheibe.
Der Unbekannte beugt sich ebenfalls zum Glas und stemmt die Hände in die Schenkel.
Man kann solche Dinge unendlich lange anschauen, sagt er, – dieses Durcheinander, das Chaos, in dem Dinge zusammentreffen, die in ihren vergangenen Leben nie zusammengekommen wären. So etwas wie das Jenseits des Unbelebten …
Es ist ein besserer Teil des Jenseits, antworte ich. Alle diese Dinge sind immerhin der Hölle der Müllfabrik entkommen.
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