Berlin liegt im Osten (German Edition)
Werterevision zum Opfer. Ich vergaß meinen Helden für mehrere Jahre, und erst neulich, als ich in einem Buch auf eine ihm gewidmete Passage stieß, entflammte diese Liebe wieder. Die Lektüre bereicherte sein Porträt mit einigen Details: Er hatte eine russische Mutter, was ich früher nicht wusste. Er trank viel, kleidete sich tadellos und liebte Frauen. Hiermit wurde er für mich zur endgültigen Verkörperung sämtlicher von Humphrey Bogart gespielten Filmhelden. Vor allem die Umstände seines Todes ließen ihn in meinen Augen wieder zum Übermenschen aufsteigen.
Jahrelang haben die japanischen Beamten den inhaftierten Sorge in ihrem Kerker gequält, jahrelang machte er aber trotz Folter keine Geständnisse. Nur wenn es besonders schlimm wurde, fielen seine Augenlider zusammen. Je nach der Stellung seines geschundenen Körpers ähnelte er mal einem angeketteten Prometheus mit seinem den Geiern ausgelieferten Leib, oder dem Gulliver, um dessen gefesselten Körper sich fleißige Pygmäen scharten – seine Peiniger reichten ihm kaum bis zu den Schultern. Sie schlugen ihn gegen das Ohr, in den Nacken, auf den Bauch und die Leiste; verdrehten ihm Kopf und Arme, zündeten ihm die Haare an, durchbohrten ihm Brustwarzen und Hodensack und schlugen ihn aufs Neue gegen das Ohr oder in den Nacken.
Im Jahr 1944, nach drei Jahren anhaltender Torturen, wurde ihm der Tag seiner Hinrichtung verkündet, dabei erbat sich der oberste Aufseher, Inspektor Ohaschi, vom Gefangenen ein Abschiedsgeschenk: Sorges schwarze italienische Schuhe mit Ledersohlen und seidenen Schnürsenkeln.
Der aus der Galgenschlinge gehobene Körper auf dem Boden wirkte noch länger, als er war. Die Japaner knäulten sich zusammen in einer dunklen Ecke, und eine Weile lang wagte keiner, sein Bein über den Toten zu heben. Er lag vor ihnen wie ein Balken und füllte den ganzen Raum, er lag da wie der tote Christus im Grabe auf dem Gemälde von Holbein.
In der Gefängniszelle des hingerichteten Sorge fand man auf Hochglanz geputzte Schuhe, in denen sauber zusammengelegte seidene Socken und ein Zettel mit der Widmung an Inspektor Ohaschi lagen.
5
Wir betreten den leeren Rosa-Luxemburg-Platz und bleiben vor den grauen Stufen der Volksbühne stehen: Die Flanken der Fassade sind mit großen Transparenten überzogen.
Rechts
steht, Schwarz auf Weiß gedruckt, auf der linken Seite. Dementsprechend ist die rechte Flanke mit mannshohen Buchstaben als
Links
bezeichnet.
Plötzlich erscheint auf dem leeren Theateraufgang ein Mensch, dann sind es zwei, drei – immer mehr Menschen quellen plötzlich aus den Fluglöcher-Türen heraus. Noch vor einer Minute sind wir hier zu zweit ganz entspannt gestanden, und nun sind wir in eine Menge schweigsamer, schwarz gekleideter Menschen eingeschlossen, plötzlich, wie in einem unheimlichen Film.
Hier ist eine gestorben, gehen wir lieber. – Ich greife zu den Rollstuhlgriffen, und wir eilen fort.
Auf der Wiese neben dem Theater sonnt sich eine junge Frau. Ihr Körper ist winterlich bleich, das Höschen schneeweiß, die Beine sind in das satte, pelzige Grün gestemmt, das Gesicht ist mit einem aufgeschlagenen Buch vor uns abgeschirmt:
Das Herz ist ein einsamer Jäger
. Ihr gegenüber, in der Nische eines durchsichtigen Häuschens, liegt ein Mann mit goldener Filzmähne. Die pumpenhaften Handbewegungen unter seiner roten Decke werden immer schneller. Vor dem zuckenden Lumpenhaufen steht eine Frau mit dem Schlüsselbund in der Hand und wartet, bis der Mann ihr den Weg zur ihrer Arbeitsstätte räumt, denn tagsüber dient das durchsichtige Häuschen eigentlich als Theaterkasse. Abends probt hier die kreative Jugend und nachts schlägt der Stadtnomade sein mit Stroh gepolstertes Nest auf. Wenn er weggeht, packt er seine Decke sorgfältig in einen Plastiksack, schabt das Stroh zusammen und versteckt seine Schlafutensilien hinter der Glasbude. Er steht aber spät auf, erst wenn die Kassiererin mit ihren Schlüsseln da ist. Sie schaut uns seufzend an und rasselt wieder mit dem Schlüsselbund.
Wir eilen weiter, links lassen wir das Karl-Liebknecht-Haus hinter uns, einen blau-weißen Dampfer. In den quadratischen Fenstern stecken kleine Fahnen – weiß, blau, rot baumeln sie resigniert und kapitulierend herum. Wir setzen uns an einen Tisch unter dem roten Sonnenschirm vor dem Kino
Babylon
, wo Herr Seitz einst den allerersten Film seines Leben gesehen hat: ‚Dick und Doof‘.
Vom Poster im Fenster des Cafés lächelt uns eine
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