Berlin liegt im Osten (German Edition)
Verwundeter, Vater und Tochter, Deutscher und Russin, Siegerin und Besiegter – zwischen uns liegen Welten, Jahrzehnte, Flüsse, Gräber, Meilen, und die Seilbrücke über diesen Abgrund ist gespannt wie eine Saite, die seltsame und nur für uns wahrnehmbare Töne hervorbringt.
Die Wasserkanne pfeift und dampft auf dem Herd, Herr Seitz stellt seinen Stock auf die Seite, lehnt sich gegen den Küchentisch und bereitet uns Tee. Weißes Hemd, etwas locker um den dünnen Hals. Filzhausschuhe, genau solche absatzlose Latschen, wie wir sie früher in einem Stoffbeutel in die Schule brachten. Breite Hose am dünnen Gürtel hängend, parallele Bügelfalten und dieses totale und diffuse Verlangen, eingesperrt in einem vor Angst und Unsicherheit gelähmten Körper – immer aufs Neue erinnert mich Herr Seitz an meinen ersten Geliebten, einen frechen Jungen aus 5 B.
Verunsichert und etwas genervt gehen wir hinaus. Ich schiebe ihm seinen Rollstuhl hin, und wir brechen ins Stadtzentrum auf. Die Torstraße ist holprig und laut, wir biegen an der U-Bahn-Station zum ruhigen Rosa-Luxemburg-Platz ab und bleiben vor der linken Flanke der Volksbühne stehen, an einer neu angebrachten Tafel zur Geschichte des Platzes.
Haben Sie diese
orientalisch-proletarische Ghettowelt
noch erlebt?
Nein. Anfang der dreißiger Jahre hat man schon die ordentlichen Neubauten hier errichtet. Der Kleintierund Trödelmarkt zog sich in die benachbarten engen Straßen zurück, und der Platz sah dann korrekt aus, ungefähr so wie jetzt. Nur dass es damals, genau zwischen dem Theater und der U-Bahn-Station, ein Denkmal für zwei Polizeimänner gab, die von den Kommunisten umgebracht worden waren.
Erzählen Sie, bitte! – Es ist keine Bitte, sondern eine dargereichte Hand, denn ich weiß, was ihm an diesem Ort durch den Kopf geht, und ich weiß, wie teuer und lieb ihm diese ganz frühe Erinnerung an seinen Vater ist.
Es war ein schneeweißer Tag, und Vater und Sohn standen hier, am Rande des Bülowplatzes, und schauten zu, wie am Denkmalsockel Kränze niedergelegt wurden. Unmittelbar um das Denkmal für die Opfer des roten Terrors versammelten sich die an der heiligen Handlung beteiligten Uniformierten, profane Zuschauer oder Passanten, wie auch die Seitz, blieben etwas abseits stehen.
Die lange rote, bolschewistische Pfote greift mit ihren schmutzigen Krallen nach ihrer Beute, tief ins Herz unseres Reiches!, keifte der Mann vor dem Denkmal. Er und seine Mitstreiter in grauen und schwarzen, mit Riemenzeug eingefassten langen Mänteln, hoben sich vom schneeweißen Hintergrund besonders satt ab und ähnelten gut organisierten schwarzen Insekten: zackige Bewegungen, schmale Taillen und schwarze Stiefelschäfte, glänzend wie Chitinbeine.
Als die Hände der Anwesenden mit Hitlergruß hochflogen, schaute sich der kleine Ulf im Publikum um: keine schmutzigen Krallen, jedenfalls nicht bei denen, die bloße Hände hatten. Viele aber, auch der Vater, hatten Handschuhe an, und da konnte man es nicht sehen. Statt seiner Hand hob der Vater den Sohn in die Höhe, setzte ihn in seinen Nacken und hielt seine kleinen Finger fest, die gerade im Begriff waren, den Hitlergruß nachzuahmen.
Mein Vater war ein aufrichtiger, mutiger Mensch, sagt Herr Seitz.
Ja, Sie haben mir viel über ihn erzählt.
Er war in der Tat ein besonderer Mensch. Als Sohn eines wohlhabenden preußischen Beamten 1895 geboren, zog Konrad Seitz, wie so viele seiner Altersgenossen, als Freiwilliger in den ersten Weltkrieg und kehrte leicht verwundet und mehrfach ausgezeichnet zurück. Während seines Studiums in Berlin lernte er viele prominente Linke kennen, er kannte Karl Radek, Ernst Reuter und Rosa Luxemburg, und nach seinem Studium wurde er zur rechten Hand des roten Verlegers Willi Münzenberg. Am meisten faszinierte mich aber die Tatsache, dass Konrad Seitz eine Weile mit dem jungen Richard Sorge befreundet war: unsere Pioniergruppe hatte ja ‚Richard Sorge‘ geheißen, und deshalb haben wir auch sein Bild auf einem Stab getragen, wenn wir marschierten. Mit der nuklearen Kraft eines pubertierenden Herzens liebte ich heimlich diesen schönen, eleganten und furchtlosen Menschen, der sein westliches, homunkulöses Pendant James Bond bei Weitem übertraf, weil er kein Kino-, sondern ein wahrer Held war.
Wie andere Heranwachsende wurde ich irgendwann meiner Umgebung gegenüber äußerst skeptisch, und Richard Sorge fiel (samt anderen Kriegsund Revolutionsheiligen) dieser überstürzten
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