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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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schimpfte.
    Ich saß auf dem Hocker, meine Augen auf seine schmutzigen Schuhe geheftet. Es war ein spitznasiges Narrenschuhwerk, cremefarben und schwarz, mit steil nach oben gedrehten Schnäbeln, wie man es in den dunkelsten Zeiten des Mittealters getragen hat. Schuras helle Hose, die ich nicht kannte, war vorne, um den Reißverschluss herum, durch die Griffe speckiger Hände etwas dunkler, und das fiel unangenehm auf. Schuras Augen waren glasig, und in den Ecken seines Mundes sammelte sich weiße Spucke. Ich musste mir unwillkürlich vorstellen, wie sich ein duftendes Hundefell zwischen den Zähnen anfühlt, und überlegte mir, unter welchem Vorwand ich diesem Gladiator körperliche Nähe verweigern könnte.
    Kriege ich heute endlich etwas zu fressen in meinem Haus? Kein Brot, keine Eier! Schura setzte sich am Tisch neben mich.
    Ich frage bei den Nachbarn, seufzte ich.
    Es war sehr spät, ich wusste aber, dass sie wach sind. In den Wirrzeiten blieben die Bürger des Riesenreiches wach bis zum Umfallen. Wie Kinder ohne Aufsicht aßen sie bei jeder Gelegenheit sensationelles Zuckerzeug und tranken sensationelles Bier aus sensationellen Dosen. Fortschrittliches Bier und
Snickers
ersetzten den obskuren Kwass und den Buchweizen in den Kantinen, Zugrestaurants und Flugzeugen. Unsere Nachbarn tranken ihr Bier vor dem blauen Bildschirm, der nur Schreck und Gruseln ausschied. Unmittelbar vor den Tagesnachrichten strahlte ein Star-Kurpfuscher sein hypnotisierendes und heilendes Charisma in die Wohnzimmer. Viele Bürger fielen vor den Fernsehgeräten in Ohnmacht, was wohl als besonders gesundheitsfördernd galt.
    Okkultisten, Monarchisten, Anarchisten, Kommunisten, Kapitalisten, Baptisten lieferten sich fabelhafte mediale Schlachten vor den Augen eingeschüchterter Bürger. Gleich nach den Nachrichten lief die Sendung ‚600 Sekunden‘, die sich ausschließlich mit in Mode gekommenen Lustmorden beschäftigte. Der Moderator sprach schnell und hatte die Augen eines Besessenen, während die Kamera lüstern auf abgesägte Köpfe, zerquetschte Beine und abgehackte Finger zoomte.
    Die Nachbarn sahen gerade eine Doku über riesige, mannsgroße Ratten, die angeblich in den unterirdischen Labyrinthen der Moskauer U-Bahn gesichtet worden waren und die sich rasch vermehrten.
    So groß wie ein Kalb!, sagte die Nachbarin im lila Bademantel, nachdem sie mir drei Eier gereicht hatte. – Den Schwanz hat man im Film deutlich sehen können, sagte sie, so dick wie mein Arm! Es ist wahr! Mutation, wegen Tschernobyl!, erwiderte sie mit energischem Kopfschütteln auf meine Zweifel hin.
    Ich rührte das Omelett für den hungrigen Schura an und musste dabei an die Riesenratten denken, die in der höllischen Dunkelheit der Metro-Katakomben emporwachsen: dick, blass und saftig wie Speckmaden.
    Alle fahren weg, Schura, nur wir sitzen hier wie die Blöden. Deine Cousins sind auch schon weg. Willst du die Eier mit Speck oder ohne?
    Mit.
    Wir haben standesamtlich geheiratet, und Schura fing an, unsere Ausreise zu organisieren. Schuras Mutter wollte über Emigration nichts hören, und als wir seine Sachen bei ihr einsammelten, schlich sie uns hinterher wie eine Bettlerin. Dabei hielt sie ihre Strickjacke vorne zusammen, als ob sie damit ihre weiche, schlaffe Brust vor einem Schlag schützen wolle.
    Die Abschiedsparty spielte sich in unserer engen Küche ab. Im Zimmer standen drei volle Koffer, daneben saß die fünfjährige Marina und versuchte, ihren Kram in den kleinen Rucksack zu quetschen. Gelegentlich kam sie verweint in die Küche und zog mich ins Zimmer: Das Krokodil passt nicht, und das Kaleidoskop! Und sonst aaallleees! Ich will alles mitnehmen!
    Du brauchst gar nicht zu weinen, da im Westen gibt es auch alles, und alles ist viel besser als hier! – Ich wischte ihr die Tränen mit dem Zipfel meines verrauchten Rocks ab, strich ihr über den Kopf und tauchte zurück ins Leibergewimmel der engen Küche.
    Am nächsten grauen Morgen saßen wir auf dem Flughafen, schlapp und blass. Die von den Zollbeamten durchwühlten Koffer sträubten sich grinsend und ließen sich nicht wieder schließen. Die Toilettenpapierrolle, die wir anstatt Taschentüchern dabei hatten, durfte nicht mit ins Ausland, und wir drückten sie Schuras Mutter in letzter Minute in die Hand. Die Flugpassagiere, die
für immer
ausreisten, hatten alle eine
Zenit
-Kamera oder ein Fernglas um den Hals hängen und ähnelten damit tapferen, neugierigen Boy Scouts. Diese Gegenstände waren

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