Berlin liegt im Osten (German Edition)
im Westen angeblich sehr begehrt.
Der Abschied glich einer Totenfeier. Die Hinterbliebenen umschwärmten die Stelle an der Schranke, von der die verglaste Halle des Abflugbereichs zu sehen war. Nur Schuras Mutter mit der Toilettenpapierrolle in der Hand stand etwas abseits. In dem Moment, als wir uns umdrehten, um einen letzten Blick zu erhaschen, beugte sie sich nach der hinuntergefallenen Rolle und kroch in die uns entgegensetzte Richtung dem weißen Papierstreifen hinterher.
Wir landeten in Spandau, am Rande von Berlin, in einem Asyl, wo wir zwei Zimmer in einer
kommunalen
Wohnung zugewiesen bekommen hatten. Die Bewohner der anderen Zimmer, mit denen wir die Küche und das Bad teilten, wechselten andauernd. Es waren ausschließlich sehr laute Südländer, goldhäutige Menschen mit beringten Händen, deren Nachbarschaft uns lästig und peinlich war. Wir hielten uns für viel westlicher als sie, daher fühlten wir uns ihnen überlegen und waren eifersüchtig auf unsere neue Heimat, die in Beziehungsdingen so anspruchslos war. Wir mieden auch die anderen Asylanten, selbst unsere Landsleute, als ob wir uns der Häutung vor ihren Augen schämten.
Bei jeder Gelegenheit fuhren wir in die Stadt, weg aus dem Heim, in die bunt geschminkte Welt, wo in den Hauseingängen unterwürfige Lichter schimmern, wo die Haustreppen wie mit duftenden Shampoos gewaschen scheinen, wo sich alle lieben und respektieren, wo gepflegte Kinder unter liebevollen Blicken der smarten Eltern an wunderschönen Legowelten basteln, während Omas mit hölzernen Löffeln leckere Gerichte zaubern. Merkwürdig, aber wahr: Es war das beste Jahr in unserem gemeinsamen Leben.
Von den freudigen Erwartungen wie Luftballons aufgeblasen, schwebten wir hoch im Wagen der grünen U1. Wir schauten auf die Stadt, die uns zu Füßen lag, und weideten unsere Seelen an den schönen, sich abwechselnden Traumbildern: Marina mit einem schicken rosa Tornister in einer gemütlichen deutschen Schule, Schura vor einer Staffelei oder gar in einem Studio, ich als Übersetzerin, nein, als Journalistin – so eine strenge, mit einem Kugelschreiber in der Hand und mit einer dicken Brille. Oder wir sahen uns als ein Unternehmerpaar: Kein Restaurant und keinen Imbiss, wie sie die banalen Migranten sonst haben, nein, wir würden ein Kino aufmachen, ein Kunstkino mit einem schönen Buffet, gemütlich, mit Plüschbänken und Sesseln, wo sich das erlesene Publikum mit Getränken in der Hand nach dem Film Salon-Debatten liefert. Ich war fest davon überzeugt, dass wir einer wundersamen Wiedergeburt nahe wären.
4
Es dauert, bis Herr Seitz die Tür aufmacht. Er stützt sich mit der rechten Hand auf einen Gehstock, und als er versucht, mir meinen Mantel abzunehmen, verliert er das Gleichgewicht und fällt mir in die Arme. Wir halten uns eine kurze Weile aneinander fest, wie bei einem Tanz, seine Schulterblätter in meinen Händen sind scharf und kantig.
Dunkle, dicke Möbel, helle Spitzendeckchen, etwas vergilbte Tapeten im grellen Frühlingslicht, und die unheimliche Glasuhr mit ihren offen daliegenden Eingeweiden.
Es ist alles so sauber, sage ich.
Heidi war gestern hier.
Haben Sie auch gebadet, gestern? Eigentlich sollte ich Sie heute baden.
Ich bitte Sie, Lena, lassen Sie das. – Herr Seitz dreht mir den Rücken zu und schiebt die Standfotos auf dem niedrigen, kurzbeinigen Buffet zurecht. – Gehen wir lieber raus, es ist so schön draußen. Solches Wetter gibt es nur im Mai. Die Bäume sind so grün.
Vielleicht soll ich erst ein paar Fenster putzen?
Ich habe Ihnen gesagt, dass ich lieber mit Ihnen raus möchte!
Dafür muss ich ja nicht bezahlt werden. Wollen Sie, dass ich Sie ganz an Heidi abgebe?
Ich möchte nur, dass wir jetzt Tee trinken und dann spazieren gehen!
Okay, seien Sie nicht gleich gereizt. Es ist mir natürlich viel angenehmer als Fensterputzen.
Sein Ellenbogen sträubt sich gegen meinen unterstützenden Griff, und ich lasse ihn los.
Sie brauchen mich nicht zu halten, und den Tee mache ich selber! – Er meidet meinen Blick und geht in die Küche, so schnell wie er kann. Ich bleibe im Zimmer und frage mich voller Schadenfreude, wie er mit seinem Stock unsere Teerunde in den Griff bekommen wird. Man könnte es als Ehestreit bezeichnen, wenn wir ein Paar wären. Wir sind aber kein Paar, genauer gesagt, kein richtiges. Unsere Zweisamkeit lässt sich schwer einordnen, unsere Freundschaft hat vage Konturen, wie aufeinandergestapelte Dias: Samariterin und
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