Berlin liegt im Osten (German Edition)
junge Rotarmistin an. Sie trägt eine Schiffchenmütze und einen breiten Ledergürtel um ihre Wespentaille –
8. Mai. Widerstand und Befreiung
. Am 8. Mai 2010 werden die ehemaligen jugoslawischen Partisanen Olga Rodić und Radoslav Derić in Berlin zu Gast sein. Beide leben heute in Belgrad und werden anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung vom deutschen Faschismus auf einer Veranstaltung der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB) sprechen, um von ihrem Kampf bei den Partisanen zu berichten.
Ist das heute?, frage ich.
Nein, der 8. Mai war gestern. Heute ist der 9.
Wie konnte ich vergessen, dass in Russland heute ein großer Feiertag ist? Eine riesige Siegesparade. Mit Panzern und Flugzeugen. Und in den anderen russischen Städten auch. Dass das ganze Land dort heute in Aufruhr ist. Und hier ist es so ruhig und still. Nichts bewegt sich, nur zwei winzige Metallpfeile gleiten in der Höhe, und die immer dicker werdenden doppelten Kondensstreifen schneiden das Himmelszelt über unseren Köpfen entzwei.
Als wir uns wieder auf den Weg machen wollen, stehe ich auf und lege meine Hand auf die Schulter von Herrn Seitz. Sie ist so kantig und fleischlos wie die Schulter des pubertierenden Jungen im damaligen Frühling, gestern.
Ulf und seine Mutter sind bis zum Kriegsende in der Stadt geblieben – Elsa Seitz war fest davon überzeugt, dass ihr Mann im Gefängnis Moabit eingesperrt ist und immer noch lebt. Wenn das Gefängnis bei Luftangriffen beschädigt würde, könnten die unversehrten Insassen fliehen – das bildete sie sich ein und blieb in Erwartung ihres Mannes in der Torstraße sitzen. Auf dem Stadtplan hoben sich die Umrisse des berühmten Gefängnisbaus deutlich ab: fünf sternförmig gespreizte Finger, Blätter einer giftigen Pflanze … Die Bomben fielen inzwischen nicht nur nachts, wie früher, sondern auch tagsüber. Wie konnten die Flieger diese riesige, symmetrisch eingeteilte Anlage übersehen? Auch das Haus von Seitz blieb wie durch ein Wunder fast unversehrt.
Der Schulbetrieb wurde im Frühling eingestellt, die anderen Betriebe auch – jeder hatte jetzt nur eine Verpflichtung: zu überleben. Die Mutter und der Sohn verbrachten die meiste Zeit im Luftschutzkeller. Ulf fürchtete sehr, unter der Erde verschüttet zu werden, vielleicht auch deswegen lief er unter jedem Vorwand aus dem Keller hinaus. Als der Himmel sich für eine Weile beruhigte, nahm er die Milchkanne, um aus der Wohnung etwas Wasser zu holen. Das Treppenhaus war in dieser Abendstunde absolut dunkel, und er geriet in ein Gewimmel aus unsichtbaren Leibern. Die Finsternis atmete, zuckte, röchelte – die Treppenstufen waren von deutschen Soldaten übersät, die vor Erschöpfung erstarrt an der Wand lehnten.
Als Ulf und seine Mutter am nächsten Morgen das Treppenhaus betraten, sahen sie, dass die erste Treppe bei einer Explosion herausgerissen worden war.
Die sonstigen Räume im Haus jedoch waren unversehrt geblieben. Ulf, die Mutter und die wenigen Nachbarn, die noch im Haus waren, stiegen mit Hilfe der Feuerleiter hoch bis unters Dach und konnten von da zur Haustreppe gelangen. Als die Bombenangriffe sich noch verstärkten, übersiedelte die ganze Nachbarschaft vom Hauskeller in einen riesigen Flachbunker. Dort gab es immer noch Wasser und Licht, und viele blieben die letzten zwei Kriegswochen da, ohne einmal rauszugehen. Alle wussten schon, dass der Krieg von heute auf morgen enden kann, und keiner wollte denken, geschweige denn sagen, was dieses Ende mit sich bringen würde. Nur ein alter Mann wiederholte immer aufs Neue, dass die Russen alle mit den Zungen an die Türe nageln würden. Den Kindern waren diese düsteren Zukunftsprognosen egal, sie spielten Käsekästchen oder Versteck und wirkten gar nicht eingeschüchtert. Nur als eines Tages unter den Kellerinsassen nervöses Getuschel herumging –
Die Russen kommen!
–, wurde es auch den Kindern unheimlich.
Die ersten Russen, die wirklich kamen, wirkten jedoch verunsichert und erschöpft: Sie durchsuchten den Bunker nach Waffen, planschten im Waschraum und eilten weiter. Diese Begegnung verlief ziemlich harmlos, so dass Ulf nichts davon in Erinnerung geblieben ist, außer dass diese Sieger ihm irgendwie krummbeinig erschienen.
Als Ulf und die Mutter hinausgingen, lag alles um sie herum in Schutt und Asche. Überall waren Panzersperren, als ob sie mit ihren Kreuzen besonders gut geleistete Vernichtungsarbeit markieren wollten. Hier gruben die Menschen verzweifelt
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