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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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schreiend in den noch qualmenden Trümmern nach ihren Angehörigen, dort lag ein akkurater Stapel barfüßiger Leichen, eine Frau krümmte sich mit einem toten Kind in den Armen. Ihr Geheul war furchtbar. Wimmernde Hitlerjungen und verwundete Soldaten irrten herum.
    Gitler kaputt! Nicht schießen! Gitler kaputt
, dröhnte es von der Kreuzung, wo der sowjetische Lautsprecherwagen erschien. In dem Moment knallten mehrere Geschosse vom Dach eines gegenüberliegenden Hauses. Die Frau mit dem toten Kind sackte zusammen, Blut strömte über ihre Beine und färbte ihre weißen Strümpfe flammend rot. Die Mutter drückte Ulfs Kopf an ihren warmen weichen Bauch und zog ihn mit sich hinter das von Schutt und Schreck ergraute Klavier. Es lag umgekippt, und seine kleinen Pfoten griffen hilflos wie die Krallen eines toten Vogels in die Leere.
    Aus seinem Versteck konnte Ulf hoch auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses seinen Klassenkameraden Klaus sehen, wie dieser mit einer Maschinenpistole in der Hand an den Schornstein gelehnt stand. Von der Kreuzung liefen sowjetische Militärs herbei und verschwanden im Hauseingang. Bald darauf stellten zwei Soldaten ihre Maschinengewehre so nah beim Klavier ab, dass Ulf den herben Schweißgeruch der Russen spüren konnte. Als der Rotarmist Mutter und Sohn bemerkte, schwenkte er lächelnd das Maschinengewehrmaul in ihre Richtung. Die sitzende Mutter umfasste ihren zusammenkrümmten Sohn, verhüllte seinen Kopf mit ihren Händen, drückte ihn fest an sich, als ob sie ihn zurück in ihren Schoß pressen wollte. Daraufhin winkte der Russe freundlich mit der Hand und drehte die Metallschnauze in eine andere Richtung. Ulf verschloss die Augen, um nicht zu sehen, wie Klaus vom Dach geschossen wird. Das Knattern mündete in schrilles Geschrei: der verwundete Klaus blieb oben an einer Regenrinne hängen. Er zappelte mit Händen und Beinen, während das Publikum, den Kopf weit im Nacken, zu ihm hoch starrte. Die Russen lachten laut und applaudierten sogar, so dass das Ganze einer Zirkusvorstellung geglichen hätte, wäre da nicht das ohrenbetäubende Geschrei des verzweifelten, unfreiwilligen Akrobaten in durchpissten Hosen gewesen, der weinend nach seiner Mutter rief.
    Die Furcht vor Vergewaltigungen ging den Russen voraus. Wegen der fehlenden Treppe jedoch blieb das Haus in der Torstraße in den ersten zwei Tagen von Eindringlingen verschont. Dann aber hat jemand von den Siegern gesehen, wie der Nachbar, der siebzigjährige Herr Braun, die Metalltreppe an der Außenwand des Hauses hochkletterte. Erst hielten sie ihn für einen Marodeur und hätten ihn beinahe gelyncht. Herr Braun winselte wie ein geschlagener Hund und rief nach seiner Frau. Als diese sich im Fenster zeigte, kapierten die Soldaten, dass das Haus bewohnt und zugänglich ist, ließen Herrn Braun los und stürmten die Treppe.
    Der verprügelte Herr Braun und seine Frau brachen am gleichen Tag zu ihren Verwandten nach Dahlem auf, wo sie diese furchtbaren Zeiten überdauern wollten. Am nächsten Morgen kehrten sie zurück – fassungslos, gebrochen, erschrocken: die Familie, bei der sie Zuflucht finden wollten, hatten sie im Keller entdeckt. Tot, nackt und verstümmelt, mit ausgerenkten Beinen. Die Schwester von Frau Braun, ihre Tochter und vier Enkelkinder. Im Vergleich zu dieser Tragödie verlief die Einnahme der Stadt in der Torstraße fast idyllisch. Die ersten Soldaten, die ins Haus gelangten, waren offensichtlich auf der Suche nach Frauen. Die ersten Wünsche nach Uhren und Rache schienen schon befriedigt.
    Die Feuertreppe war an der zu Seitz’ Fenster quer liegenden Wand angebracht. Die Mutter und der Sohn konnten also die hochkletternden Russen gut sehen. Wegen ihrer Bewegungen und der grünlichen Uniformen ähnelten die Soldaten gierigen, hektischen Eidechsen. Dann hörten die Seitzens das Trappeln im Treppenhaus und die Schläge gegen ihre Tür. Die Mutter öffnete und griff Ulf fest an den Ellenbogen. Der erste Mann mit einem rundem Gesicht voller Sommersprossen ging etwas gebeugt und mit ausgestreckter Hand auf die Mutter zu, so wie man einem streunenden Hund näher kommt.
    Ja, ja, flüsterte die Mutter und schubste Ulf zur Tür. – Geh weg, die Leiter ist frei.
    Sie machte einen Schritt nach vorne und schaute, mit dem Kopf nickend, dem Mann direkt in die Augen: Ein Kind, Kind muss raus, soll spielen! Sie sprach laut, wild gestikulierend, wie ein ungeübter Mensch mit einem Taubstummen sprechen würde, dabei ähnelte

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