Berlin liegt im Osten (German Edition)
Heute um acht?
Wir treffen uns an der Brücke, dann essen wir bei einem echten Italiener in der Auguststraße.
Wir sitzen draußen, unter dem roten Stoffvordach, und dieses flattert heftig im Wind, wie ein Segel am offenen Meer. Es ist ein winziger Familienladen, der Mann regiert hinter der Theke, die Frau händigt uns große Speisekarten aus. Roman befragt sie lange zu diesem und jenem Gericht – souverän, kennerhaft und freundlich.
Übrigens, sagt Roman, nachdem wir die Bestellung gemacht haben, es gibt bei uns auf der Station auch ausländische Privatpatienten, oft reiche Menschen aus asiatischen Ländern, auch Russen, nicht solche wie hier, wie du, sondern waschechte.
Jetzt aber mal halblang. – Ich schaue mit vorgetäuschter Strenge zu Roman hinüber. – Aus unserer Sicht beginnt Asien erst in der Mongolei oder in China.
Bei uns liegt jedenfalls jetzt eine kranke Frau aus Sibirien, und ihr Betthaupt ist mit Heiligenbildern auf Holztäfelchen umstellt. Da habe ich gleich an deine Mutter gedacht, die auch so etwas mag.
Was fehlt der Frau?
Sie hat Krebs.
Ihr reicher Ehemann hat sie nach Berlin zur Behandlung gebracht, und sie hat, so Roman, höchstens noch sechs Monate zu leben. Der Mann glaubt an Wunder und achtet darauf, dass die Ärzte und der Dolmetscher seiner Gattin die in Wahrheit traurige Gewissheit nicht verraten. Er übernachtet in der Stadt, und tagsüber sitzt er an ihrem Bett. Wenn sie sich von den Chemotherapien erholt hat, gehen sie in der Stadt spazieren und bringen große
KaDeWe-
Tüten mit, voller Geschenke für ihre Kinder und Enkelkinder in Sibirien, deren Fotos sie dem Personal gerne zeigen. Sie haben auch Bilder von ihrem Auto, dem Garten und dem Haus dabei. Es hat breite Bogentüren, innen gibt es samtene Vorhänge mit Quasten, und überall schimmert Gold. Dann packen sie die Fotoalben wieder weg und speisen Kaviar mit dem Esslöffel.
Eigentlich sind sie nett und rührend, aber – Roman schaut über meinen Kopf hinweg, um ein passendes Wort zu finden.
Was aber? – Ich fühle mich plötzlich in der Pflicht, diese mir wildfremden, aber immerhin
russischen
Menschen vor Spott zu schützen.
Ich meinte nichts Schlechtes, bloß ihre ganze Erscheinung übertrifft noch alle gängigen Klischees, statt sie zu widerlegen.
Hier fällt mir ein, dass es in der deutschen Literatur von solchen exotischen Russen nur so wimmelt, meistens treten sie als Nebenfiguren auf. Das sind oft Reisende oder Kurgäste, und sie sind immer sonderbar und immer reich. Wie im ‚Zauberberg‘ zum Beispiel, möchte ich sagen, da kommt aber unser Essen:
Hier ist Fisch für den Herrn, und da sind die Gnocchi mit Leber.
Habe ich dir deswegen die Geschichte über die Frau erzählt? – Roman macht große Augen.
Was meinst du?
Na, die Frau des Oligarchen hat ein Leberkarzinom.
Mitten in einer lebhaften Diskussion über die krummen und verwickelten Wege unserer Gedanken klingelt Romans Handy. Während er aufs Display schaut, erhebt er sich rasch (sein Stuhl scharrt dabei über den Boden wie ein Donner) und tritt beiseite.
Ich schaue weg von ihm in das Ladeninnere, wo die Frau an der Kasse fummelt und gelegentlich fragend zu ihrem Mann schaut. Sie ist etwa Mitte vierzig, wie ich, mit ihrer Schürze und den flachen Schuhen aber sieht sie viel älter aus, matter … Sie sind seit einer Ewigkeit verheiratet – Küche, Kasse, Konto, Kinder, die auf dem Gymnasium oder schon aus dem Haus sind. Die Eheleute sind rund um die Uhr zusammen, gehen nie aus, und die Frau beneidet mich vielleicht um meine hohen roten Pumps und die heimlich erhaschten Blicke in den kleinen runden Taschenspiegel. Roman erwischt mich doch noch mit der Puderdose in der Hand, denn ich habe nicht gehört, wie er zurückgekommen ist.
Hat es dir nicht geschmeckt?, zeigt er auf meinen fast unangetasteten Teller. – Darf ich was von deiner Leber naschen?
Dann laufen wir wieder durch Berlin Mitte mit seinen engen Gassen, und diesmal schenke ich Roman all mein Wissen über das Universum von Franz Biberkopf: Aus dem Gefängnis entlassen und in der Stadt verloren, wurde er hier, in der Sophienstraße, von einem Juden mit rotem Vollbart angesprochen, und dieser brachte den Verzweifelten in die Stube mit dem eisernen Ofen und tröstete ihn mit seinen Märchen – vielleicht passierte das in diesem Haus?
In der Rosenthaler Straße bewunderte Franz Schuhe, Hüte und Glühlampen in den Schaufenstern, stand vor den Lokalen und schaute, wie die Menschen zu
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