Berlin liegt im Osten (German Edition)
Alten noch Marina noch ich selbst) mit mir etwas anfangen. Ich bin wortkarg, langsam, aber konzentriert, als ob ich eine Granate in der Tasche tragen würde, wie Marina spöttisch sagt.
Und diese Granate explodiert, als sie mich zum dritten Mal daran erinnert, dass Herr Seitz sich gemeldet und um einen Rückruf gebeten hat.
Jetzt weiß du, wie es sich anfühlt. – Ihre Stimme enthält einen großen Schuss Schadenfreude, so scheint es mir jedenfalls.
Was!?
Was du deinem Seitz angetan hast. Ein bisschen rumgespielt und dann weggeworfen.
Dann schreie ich Marina an. Denn ausgerechnet sie hat mich früher wegen diesem alten Seitz ausgelacht, und sie war es, die den jungen dynamischen Roman bejubelt hat. Ich dagegen bin aus Marinas Sicht egoistisch wie eine verliebte Siebzehnjährige.
Geht es ihm tatsächlich so schlecht?, frage ich nach einer langen Pause.
Das musst du rauskriegen.
Als ich ihn am gleichen Abend anrufe, berichtet er, dass es ihm gut geht. Ich sage, dass es mich freut, und dass ich ihn gerne besuchen würde. Ich benutze das
Sie
und das scheint ihm recht zu sein. Wann? Sagen wir Mittwoch?
Der Mittwoch kommt, ich stehe vor seiner Tür, und diese geht auf, kaum dass ich die Klingel berühre. Er sitzt in seinem Rollstuhl, ich stehe. Wir schauen uns an. Ich reiche ihm meine Hand, beuge mich tiefer und schnelle gleich hoch, ohne ihn umarmt zu haben, der leicht muffige Geruch eines vernachlässigten Körpers steigt mir entgegen. Die roten, teilweise schuppigen Flecken an seiner Hand ähneln Brandwunden. Herr Seitz rollt zur Anrichte und greift hastig zum fingerlosen Handschuh. Dieser hat eine rosige Farbe und hebt sich kaum von der Haut ab.
Ekzeme. Altes Leiden. War lange Zeit weg, jetzt ist es wieder da.
Ich schaue zur Seite.
Die Sonne, durch die Gardinen gefiltert, wirkt matt und abgestanden. Die Tür ins Schlafzimmer ist offen, im trüben Schrankspiegel sehe ich unser Bild – er sitzt mitten im Zimmer, ich stehe daneben. Im Geiste jedoch sehe ich uns noch einmal auf seinem anachronistischen Ehebett liegen – zwei verkrüppelte Seelen mit blassen Extremitäten wie tiefgefrorenes Geflügel. Warum habe ich das getan?
Es riecht nach Tod hier, nach Untergang, nach Wehmut, nach Vergangenheit – ich möchte weg, in die Sonne, und setze mich dennoch an den Tisch. Ulf folgt mir nicht und bleibt unentschlossen mit seinem Rollstuhl mitten im Zimmer stehen.
Geht es Ihnen gut? – Seine Stimme klingt höflich, fast teilnahmslos.
Gut. Und Ihnen? Sind Sie, äh, gut versorgt?
Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin in guter Form, und Heidi ist ein Schatz.
Das freut mich, lächle ich artig.
Heidi hat mir unseren Lieblingstee besorgt, den japanischen, grünen. Steht da, auf dem Regal, sehen Sie? – Seine Hand, die er Richtung Küche ausstreckt, ist so schwach oder unsicher, dass sie bei den Pulsschlägen leicht zuckt.
Ich muss los. Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Und den Tee trinken wir nächstes Mal, sage ich und schaue zu Boden.
Eine Weile sitzen wir noch schweigend am runden, weiß gedeckten Tisch, weit voneinander entfernt, wie Arktis und Antarktis. Ich bin hierhergekommen, um ihn zu trösten, bin aber zu leer, um auch nur einen Krümel Mitleid oder Zuneigung zu produzieren. Seine schnellen, schüchternen Blicke, seine unruhigen, verdrehten Hände – sein ganzes Aussehen verdoppelt die Leere in mir, multipliziert sie ins Unerträgliche.
Kommen Sie wieder?, fragt er, als ich aufstehe und zur Tür laufe.
Ja, natürlich. Dieser Tage. – Ich nehme seine Hände in meine, schüttle sie leicht und schreite entschlossen zur Tür hinaus. Meine Hand aber bleibt dann draußen zögernd auf der Klinke liegen: als ob im hellen Türspalt ein kleines Lebewesen sitzen würde, das ich jetzt mit einem Knall zerquetschen könnte.
Gnädige Frau
, hat er manchmal gut gelaunt zu mir gesagt. Ungnädige Frau, die von einem anderen Mann begnadigt sein will. Kann man sich zwingen, gnädig zu sein? Gnade erlernen? Oder sie einfach vortäuschen. Das tue ich jeden Tag bei der Arbeit. Ich kann das. Aber nicht jetzt.
Zuhause angekommen, hole ich mir eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und trinke sie aus. Mache die zweite auf und wähle Romans Nummer. Freilich, er hat mir hinterhergerufen, vielleicht ist er mir sogar nachgelaufen, um etwas Wichtiges zu sagen.
5
Ich höre nicht, wie Marina nach Hause kommt, und erschrecke, als sie die Küchentür aufreißt.
Was ist denn hier los?, sagt sie und macht das Licht
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