Berlin liegt im Osten (German Edition)
schief angebracht, so wie es zur Orthodoxie gehört.
Mutter bleibt da liegen, und wir gehen zurück, in die leere Arche meiner Kindheit. Auf dem Tisch, wo neulich der Sarg stand, stehen Flaschen und Teller. Es gibt viele Frauen, sie laufen lautlos, haben bedeckte Köpfe, Schürzen. Es gibt auch Männer. Sogar einen Popen: Ihre Mutter ist jetzt an einem besseren Ort, trösten Sie sich, sagt er. – Er spricht mit der dünnen Stimme eines Heranwachsenden, und ich wundere mich, denn kurz zuvor, am offenen Sarg meiner Mutter, hat er noch mit sattem Bass gesungen. Warme und weiche Hände, glatte und weiße Backen über dem Bart, im Bartdickicht ein roter Mund, ja vor allem diese vitale Röte seines Mundes wirkt abstoßend. Auch Vater Michails gesunder Appetit, mit dem er in eine Hähnchenkeule beißt, provoziert mich. Als ich dann sehe, wie Marina ihm beim Abschied Geld für die rituellen Dienste gibt, hasse ich ihn regelrecht. Einige Frauen eilen zu Vater Michail, um sich zu verabschieden, und bitten um seinen Segen. Er malt über ihre Köpfe ein flüchtiges Kreuz und legt seine fleischigen Finger in ihre ausgestreckten, ineinandergelegten Handflächen. Die Frauen beugen sich und küssen ihm die Hand, die vielleicht immer noch nach Brathähnchen und Geld riecht.
Ich halte mich nicht an die Etikette und verabschiede mich von ihm mit einem nüchternen Kopfnicken. Entgegen meinen Erwartungen wirkt er nicht beleidigt oder abweisend. Eher im Gegenteil.
Trösten Sie sich. Sie hatte keine Angst, das weiß ich genau. – Er schüttelt meine Hände in seinen und beugt sich plötzlich zu meinem Ohr: Fürchten Sie sich auch nicht. Das Leben hört nicht auf, es wird nur anders.
Dann sind sie alle weg, auch Marina fliegt zurück. Ich bleibe länger, um den Papierkram zu erledigen. Ich bin ganz allein in dem Haus, das ich bald erben werde. Ab und zu besuchen mich meine Verwandten und alte Bekannte. Einige betagte Nachbarn sind immer noch da, für alle bin ich allerdings so etwas wie eine Außerirdische geworden, die die Sorgen der Leute aus der Heimat nicht mehr verstehen kann. Bei vielem ist es vielleicht wirklich so. Was, wenn ich im Haus bliebe und wieder Wurzeln schlagen würde? Ich könnte auch als Lehrerin arbeiten, als Dolmetscherin wäre ich hier unschlagbar. Warum kann ich mir das kaum vorstellen? Weil ich dann das Stigma eines Losers tragen würde?
Sie hat sogar im Paradies versagt!
– Nichts anderes als Not hat auch den verlorenen Sohn nach Hause getrieben.
Die Abende im leeren Haus sind trist, die Mittage in der Stadt öde: bleiche, allgegenwärtige Sonne, Standesamt, Entrümpelungsfirmen, Notare. Heute muss ich einen Veterinär aufsuchen. Marina hat mir das Versprechen entrissen, Kubik, den Hund meiner Mutter, mit nach Berlin zu nehmen. Ein schlauer, zahmer, schlecht riechender Kerl auf kurzen Beinen, er hat das unsympathische, helle Fellmuster einer Hyäne oder einer schlampigen Blondine. Seine Pfoten und die Nase jedoch sind dunkel, die Augen braun, wunderbar klug und wach. Wenn Kubik die Ohren anlegt, zieht sich sein Maul auseinander – er lächelt und die Augen lächeln mit.
Kubik spielt an der Leine verrückt, ich lasse ihn los, er trabt artig neben mir her. Manchmal durfte er meine Mutter auch zur Bushaltestelle begleiten, die Strecke ist ihm bekannt. Der kleine Park, den wir durchqueren, hat sich sehr verändert. Das Kino
Wostok
ist weg – ein ulkiger blauer Palast, gebaut gleich nach dem Krieg. Die halbrunde Fassade war mit dicken weißen Säulen umstellt, die Flanken krönten zwei Frauenfiguren in keuschen kaukasischen Volkstrachten. Mit ihren ausgestreckten Händen und breiten Ärmeln ähnelten die Damen großen verzweifelten Vögeln mit kraftlosen Flügeln. Berührte man die blauen Palastwände, blieben die Staubschuppen des alten Kreidemörtels an den Fingern haften. Da, wo das Kino war, blitzen jetzt die nagelneuen Zwiebelkuppeln der Kirche Zur Heiligen Maria Magdalena. Kirchen und Moscheen sind die schicksten Bauten heute in der Stadt, nicht die Schulen oder Theater.
Trotz viel Skepsis sind die Ginkobäume auf der Allee der Demokratie prachtvoll gediehen. Allerdings entpuppten sie sich als weibliche Exemplare, die man eigentlich meiden sollte, weil sie stinkende Früchte hervorbringen. An den Setzlingen sieht man es nicht, die Berliner Gärtner haben jedoch zu den richtigen, zu den männlichen gegriffen, als sie die Knaackstraße in Prenzlauer Berg mit diesen wunderbaren Bäumen geschmückt haben.
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