Berlin liegt im Osten (German Edition)
an.
Sie sieht, wie ich heule.
Du befasst dich schon seit Wochen nur mit dir selbst und deinem Roman! Und wo bleiben wir? Ich habe ganz andere Sorgen!
Ich liebe dich doch!, sage ich und erinnere mich plötzlich, wie meine Mutter das einmal zu mir sagte, als ich vor Eifersucht zickte. Sie wohnte mit ihrem Mann im Stadtzentrum nicht weit vom Markt, kam aber oft bei uns vorbei, wo sie sich auch wie zu Hause fühlte. Sie kochte mit uns, besserte ihre Kleider mit Omas Nähmaschine aus und vollzog an sich unappetitliche kosmetische Prozeduren: aufs Gesicht kam eine Weiße-Sahne-Maske, auf die Augenbrauen schwarze Farbe, auf dem Kopf trug sie Zwiebeltürme aus Tüchern – so trat sie vor uns auf, damit sie dann später vor ihrem Mann mit frisch gefärbtem Haar und geglätteter Haut glänzen könnte.
Ich liebe dich doch!, sagte sie dann wieder, dabei schaute sie aber nicht zu mir, sondern in die Tiefen von Omas dreiteiligem Spiegel und auf ihr von der Maske befreites Gesicht.
Deine Augenbrauen sind zu schwarz, furchterregend schwarz, wie bei einem Piraten, hässlich sieht es aus!, knallte ich damals mit den Türen, genauso wie Marina es jetzt tut.
Wann, zu welchem Zeitpunkt meines Lebens bin ich in die Spur geraten, die meine Mutter gebahnt hat? Ich bin weggegangen, um nicht wie meine Mutter zu sein. Ich ging immer weiter, dabei kam ich ihr immer näher, ohne es zu merken. Als ich am Ende des letzten Jahrtausends zum letzten Mal die Stadt meiner Kindheit besuchte, verwechselte mich unser Nachbar, der alte Onkel David, mit meiner Mutter, und das verblüffte mich, denn eigentlich hatte es früher geheißen, ich sei meinem Vater sehr ähnlich.
Onkel David saß
immer
vor seinem Haustor auf dem Hocker: weiße Haare, moosgrüne Reiterhose, Schirmmütze und Pfeife à la Stalin – ich kannte ihn nur so. Vielleicht hatte er sich schon in der Zeit meiner Kindheit zu seiner Endfassung entwickelt. Kein Platz mehr für neue Falten, kein Grund, das Outfit und den Habitus zu revidieren – er änderte sich nicht mehr, er saß einfach da. Ich grüßte ihn laut, als ich mit der kleinen Marina an der Hand an ihm vorbeiging, er antwortete aber nicht.
Onkel David, erkennen Sie mich nicht?
O ja! Jetzt ja, ich weiß!, legte er die Handfläche an seine Stirn und nannte mich beim Namen meiner Mutter. Damals hielt ich Onkel Davids Fehler für eine Folge seiner Kurzsichtigkeit. Er hatte aber besser und weiter gesehen, als ich dachte: Aus dem Spiegel schaut mir immer öfter meine Mutter entgegen, und die Ähnlichkeit nimmt noch zu.
Ich klopfe an die Tür von Marinas Zimmer.
Marina, lass uns in aller Ruhe reden. Über uns, über dich und mich.
In aller Ruhe reden? – Marina reißt die Tür auf. – Die Oma liegt im Sterbebett, und du sitzt hier und weinst deinem Roman nach!
Welches Sterbebett? Spinnst du?
Ich habe dir heute hier einen Zettel hingelegt. Hast du ihn nicht gelesen?
Aber nein! Wo?
Verzeih. – Marina eilt in die Küche. – Klar kannst du den nicht sehen, wenn du hier betrunken im Dunkeln sitzt.
Am frühen Abend fliege ich nach Sankt Petersburg. Im Nebel schimmern die ersten Lichter der Stadt – abgebrannte Kohlenstücke in grauer Asche. Am nächsten Morgen soll ich weiter nach Süden fliegen, diesen Abend aber will ich bei Schuras Mutter verbringen. Sie ist ergraut, und so sieht sie aus wie mit Mehl bestreut, die kalten alten Hände fühlen sich wie Vogelkrallen an. Sie hält ihre Strickjacke an der Brust zusammen, als ob sie frieren würde, oder um sich zu schützen. Sie wohnt allein mit vier Katzen. Die Wohnung ist ganz die alte, bloß alles endgültig verblasst – die Muster auf ihrer Bluse, Gardinen, Decken sind kaum zu erkennen. Im Korridor neben dem Telefontisch glänzt auf der Tapete ein dunkler, noch von Schuras Rücken eingeriebener Fleck, da er beim Telefonieren immer an die Wand angelehnt hockte. Wir trinken Tee, reden über meine Mutter, über Krankheiten und über Marinas Erfolge.
Geht es Schura gut?, fragt Irina Borisowna schon zum vierten Mal.
Gut. Ihm geht es sehr gut, sage ich und neige mich zu den Katzen, die sich mit ihren warmen, gerippten Flanken an meinen Waden reiben. Sie glaubt, ihr Sohn sei in Berlin ein erfolgreicher Unternehmer, und ich möchte sie es weiter glauben lassen.
Am nächsten Morgen fliege ich nach Süden. Zum letzten Mal habe ich die Stadt Ende der neunziger Jahre besucht. Der Flug damals verlief mit vielen Turbulenzen, dafür aber servierte man uns
Heineken
-Bier in
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