Berlin liegt im Osten (German Edition)
Bibel, die mürbe ist und vom Fett ihrer Finger angeschwollen. Lesezeichen, Papierfetzen zwischen den Seiten: Gottesliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe – Zauberformeln. Der Versuch, die Angst vor dem Nichtsein zu beschwören?
Besonders wichtige Stellen schrieb sie ab und nagelte die bunten Zettel an der Wand fest. Das Blatt vor meinen Augen ist mit kindlichen Aufklebern verziert: Küken, Rosen, Kätzchen. Hier saß sie, ein vaterloses Schulmädchen, die Zunge im Mundwinkel, Tintenflecke an den fleißigen Fingern, ein Schulmädchen, das sich ganz allein mit unlösbaren Hausaufgaben abmüht. Ich schaue auf Mutters schön gewundene, bemühte Handschrift:
Wie die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. Matth. 24.12
.
Es fällt mir schwer, im Totenhaus einzuschlafen. Ich schalte den Fernseher ein und schlüpfe unter die Decke. Das lebendige Licht des Bildschirms macht die Öde erträglicher, ich fürchte mich nicht, die Augen zu schließen. So ein heißer Tag, und die Nacht plötzlich so kühl. Meine Füße werden immer kälter, die Decke ist zu klein. Ich rolle mich zusammen, das hilft aber nicht. Ich stehe auf, um mir warme Socken zu holen, und meine Füße treten ins kalte Wasser, das mir schon bis zu den Knöcheln reicht. Die Wasseroberfläche reflektiert das hektische Wimmeln am Bildschirm und schimmert rot. Im Korridor steht das rote Wasser Kubik schon bis zu den Nasenlöchern, ich packe ihn unter den Beinen. Der Hof ist auch überflutet, die Straße wird zu einem Fluss. Ich krieche das steile Ufer hoch, schaue zurück und sehe die ganze Stadt auf viele Meter hohen Wellen schweben, brennende, entwurzelte Häuser färben die Fluten rot. Die schwarze Erde bröselt unter meinen Füßen ab, wird langsam zu Schlamm, der meine Füße einsaugt. Ich will nach Hause, zum Alexanderplatz, kann aber nicht mehr laufen, ich bin zu müde. Ich lasse Kubik los, der verzweifelte Hund planscht im schwarzen Wasser und kratzt an meinen Waden. Als wir dann abstürzen, bin ich, vor Angst und Schreck erschöpft, fast erleichtert. Und siehe da! Auch nach dem Ende hört unser Leben offensichtlich nicht auf. Immer noch spüre ich Kubiks Krallen an meinen Beinen. Dann kratzt er energisch an meiner Hand, und ich höre ein leises, schuldbewusstes Winseln. Er muss mal raus.
Ich schnelle aus dem Bett hoch und lasse ihn in den Hof. Der Boden im Zimmer ist kalt, wie erwartet, es ist drei Uhr morgens. Die Straßen in der Gegend sind nur spärlich beleuchtet, und die Fenster ja mit Folie zugeklebt. – Wolfsstunde in möglichst schwarzer Ausführung, ohne Mond, ohne Sterne, ohne Laternen. Wie konnte meine Mutter diese nächtliche Dunkelheit aushalten? Ließ sie das Lämpchen die ganze Nacht über brennen? Ich zünde die ölige Kerzenzunge an und schaue in die Antlitze, mit denen meine Mutter ihre Einsamkeit teilte. Nikolaus, der Wundervollbringer. Pantaleon, ein Medizinmann. Aus der Nähe betrachtet, sind sie gar nicht so streng und abweisend. Elena und Konstantin, Mutter und Sohn, zärtlich einander zugewandt. Der Heiland, das Gesicht vor Schmerzen verzogen, wird von Maria umarmt. Die Jesusgroßmutter Anna, die ihre schwangere Tochter Maria in den Armen hält, kann ich nur anhand der Bildunterschrift identifizieren. Anna ist eine viel weniger prominente Figur als ihre Nachkommen Maria und Jesus. Hier sind sie plötzlich alle zusammen wie russische Holzpuppen ineinandergeschachtelt. Der Heiland ist noch nicht zu sehen, unter blauen Stofffalten ist er im Bauch versteckt, die kleine Maria hält ihrer Mutter Anna ein weißes Glockenblümchen entgegen. Diese ist die größte. Ihre rote Robe füllt den Hintergrund der Ikone fast restlos aus. Je weiter weg, umso größer – ein naturwidriges Gesetz, nach dem unsere Erinnerung arbeitet. Nicht unbedingt detailreicher, aber größer. Wie meine zittrigen Schattenfiguren an den Wänden, die mir alle einige Köpfe zu groß sind.
Meine Mutter mit ihren hohen Schuhen und ihrem Parfüm, das immer zwischen uns schwebte, und das sich allmählich in den befremdlichen Lämpchenduft verwandelte, den ich jetzt plötzlich so sehnsüchtig einatme. Meinen Vater kleidet die Erinnerung in eine prachtvolle Uniform, die auch einem Bonaparte, einem Zaren oder Generalissimus schmeicheln würde. Und dann sehe ich meine Oma, und sie ist die größte.
Ich drücke die Augenlider fest zusammen, damit der nächste Tag schneller hereinbricht, mein letzter Tag hier. Es ist diese Ungeduld, die uns
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