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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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als Kind miterlebt und dann um ihres Lebens willen verdrängt hatte; ihrem toten Ehemann, ihrer früh verstorbenen Mutter. Sie redete fast ausschließlich über Menschen, die es hier unter uns nicht mehr gab. Ihr Blick war wach, als ob sie einem aufregenden Film folgte, der nur ihr galt. Unsere Sorgen dagegen regten sie immer weniger auf, als ob es nicht mit ihr zu Ende ginge, sondern mit der Welt der Lebenden um sie herum. Ich war fast beleidigt, dass sie sich so wenig für Berlin interessierte. Mit matter Stimme fragte sie nach etwas so Unbedeutendem wie dem deutschen Wetter und den deutschen Nachbarn und bat um eine Tasse Tee – da, wo ihr inneres Auge nun verweilte, gab es anscheinend keine Staatsgrenzen, Fremdsprachen, keine Kulturen und keine Politik, sondern nur warm und kalt, hell und dunkel.
    Dann trank die Oma ihren Tee, und meine Mutter umwickelte ihre Füße mit Blättern einer Kletterpflanze, um die Schwellungen zu lindern. Die Oma saß auf dem Sofa, gegen aufgetürmte Kopfkissen gestützt. Erbarmungswürdig, von Schmerzen gequält. Nur wenn unsere Blicke sich begegneten, lächelte sie brav. Ins Krankenhaus wollte sie nicht: An den Schläuchen wie ein Affe zwischen Leben und Tod baumeln? Wenn meine Zeit um ist, muss ich halt gehen, sagte sie. Die Oma starb an der Schwelle des zweiten Jahrtausends.
    Nun fliege ich wieder in meine Stadt an ein Krankenbett. Im Flugzeug bietet man uns Saft, Wasser, Tee, Kaffee und dezente Kekse an. Kaum haben wir das Flugzeug verlassen, sind wir verschwitzt – es ist sehr warm hier. Der Himmel ist blau, die Sonne steht hoch. Ich rieche die Frische von den nahen, unsichtbaren Bergen.
Mit Sonnenstrahlen goldbepinselt, zeigen sich die Berge über meiner Stadt nur am sehr frühen Morgen, wenn die Luft noch klar und kühl ist. Zupft man an den Sonnensaiten, kann man ein leichtes Himmelssummen hören, ein neuer Tag wird geboren
, so schrieb ich vor einem Vierteljahrhundert in meinem Aufsatz ‚Meine Stadt im Jahr 2000‘. Und dann über das gerechte neue Leben für alle, über saubere Straßen, glückliche Kinder und die Blumenuhren … Und siehe da, ich war fast richtig gelegen: Vor dem Flughafen auf der gewölbten kurzgeschorenen Wiese ist das heutige Datum mit bunten Blumen ausgelegt: 15. Juni 2010. Meine Gegenwart, überschrittene Zukunft.
    Ansonsten keine Spur von meinen futuristischen Visionen. Was ich sehe, wirkt bunter, rückständiger, östlicher als damals.
    Links, auf einer Wiese, hockt eine kleine Schar junger Männer, sie haben dunkle Haare und weiße Socken – überall Kontraste, die in die Augen beißen: Burka versus Minirock, magerer streunender Hund versus dicker Mercedes, edle blaue Tannenbäume und ein Stück faule, mit Sonnenblumenschalen und Perlmuttscherben bedeckte Erde um die Mülltonne. Um die Angeflogenen kreisen gut gebügelte und glatt gekämmte Taxifahrer. Jeder von ihnen dreht einen Autoschlüssel um den Finger. Mich,
eine Fremde
, attackiert der Schwarm besonders aggressiv. Ich fahre mit dem Erstbesten zum Krankenhaus. Wieder dieses abstoßende Linoleum.
    Kommen Sie mit!
    Die Ärztin hat eine hohe, steife Haube. Neuerdings ist sie blau, früher trugen sie Weiß. Meine Mutter trug eine weiße Haube.
    Ihre Mutter wartete auf Sie. Sie wusste, dass Sie unterwegs sind.
    Präteritum.
    Sie starb vor vierzig Minuten. Hier. Kommen Sie mit! Es tut mir sehr leid.
    Ihre Wangen sind kalt, ihre Hände bald nass von meinen Tränen. Sie hat keine Augen mehr, nur totblau angehauchte Augenlider, wie geschminkt. Hennarotes Haar mit weißen Ansätzen, rosa Fingernägel. Ihr Körper ist nun ein Stein unter dem weißen Laken, ihre Brust aber und ihr Bauch strahlen immer noch Wärme aus.
    Sie lebt noch! Sehen Sie etwa nicht? Sie ist warm! – Ich reiße die Tür in den Korridor auf.
    Brauchen Sie Hilfe?
    Ich weiß es nicht …
    Ich bin Waise, darüber hinaus weiß ich nichts mehr – wohin mit mir, mit ihr, mit uns. Was ich alles machen soll. Offenbar mache ich mit Hilfe von Nachbarn, Freunden, entfernten Verwandten doch alles richtig, denn am vierten Tag liegt die Mutter im Sarg, der Sarg steht auf dem Tisch im kleinen mittleren Zimmer. An dem Tag kommt auch Marina aus Berlin angeflogen, dann sind wir alle auf dem Friedhof, wo die Toten neuerdings nach Konfession getrennt begraben werden. Die Großeltern liegen zusammen unter einer silbernen Stele mit rotem Stern. Die Mutter liegt daneben unter einem Kreuz. Das Kreuz hat zwei Querbalken. Der untere ist kleiner, er ist

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