Berlin liegt im Osten (German Edition)
zum Ausklang einer weiten Reise, kurz vor der Heimfahrt, einholt. Eine Gier nach dem Leben
danach
. Es hört nicht auf, es wird anders. Aber wie? Wie wird mein neues Leben ohne Mutter werden?
Fünfter Teil
1
Nach dem Flug muss Kubik aus seinem Käfig ausgeladen und dann dem Flughafenveterinär vorgeführt werden, und erst dann fallen wir Marina in die Arme. Kubiks Beförderung war nicht billig, wir entscheiden, ohne Taxi auszukommen, und gehen zur S-Bahn. Nicht die Koffer, sondern Kubik macht uns zu schaffen – noch überdreht vom Flug (mit Umsteigen), muss er nun, ein Kettenhund, an der Leine laufen – zu viel verlangt! Er bellt alles an, setzt sich mitten auf den Gehweg und nagt an seinem Strick. In der S-Bahn versteckt er sich tief unter dem Sessel und blickt manchmal zu uns hoch, mit angelegten Ohren und seinem Kriecher-Lächeln:
Alles okay mit uns?
Ich schaue aus dem Waggonfenster und kann nicht glauben, dass ich noch gestern an einem anderen Ende der Welt war. Paläste und Berge. Mit Maulbeeren bekleckste Kinder und rundliche Frauen in weiten Gewändern, manche sogar mit bis auf die Augen verschleiertem Gesicht. Blaue Tannen. Goldene Zwiebeltürme. Goldene Halsketten. Eine Kampfschwadron leerer Schuhe vor der Moschee. Grün gegen Gold, richtiger Glaube gegen den falschen, und dazwischen ruhige Koreaner mit ihren raschelnden Zwiebeln. Der wieder aufgeputzte Markt, in Grellrosa gestrichen, die einst weißen Bauernskulpturen vergoldet. Dutzende Grillkästen nebeneinander, für das längste Schaschlik aller Zeiten.
Unsere Stadt will ins Guinnessbuch!
Ihre Stadt, nicht meine – die ohnehin schon abgewetzte Nabelschnur ist nun endlich gerissen. Ich habe kein Hinterland mehr, und der Weg vor mir ist auch freigeräumt: Ich bin nun die Älteste in meiner Sippe.
Bald steckt Marina ihre Füße in die Siebenmeilenstiefel und fliegt nach Amerika. Vielleicht wird sie da für immer bleiben und sich aus ihrem neuen Westen nach diesen Minuten hier sehnen, nach dieser Stadt, die wir jetzt durchsausen. Die S-Bahn schwebt über Berlin und schneidet es in zwei Hemisphären: Links bauschen sich cremige, rot angelaufene Wolken, rechts wird der Himmel mitten am Tag niedrig, und er ist dunkel wie eine Trauerfahne. Als wir am Alexanderplatz aussteigen, regnet es. Alles ist grau, nur aus dem Fenster meines Zimmers quillt eine orangefarbene Gardine.
Schau mal, du hast die Fenster in der Wohnung offen gelassen! Schnell nach Hause!
Verdammt, ich habe keinen Regenschirm mit, sagt Marina und breitet ihre Jacke über unseren Köpfen aus. In ein paar Sekunden sind wir alle nass. Zwei Koffer mit Rädern, eine Tasche, ein Rucksack, der Hundekäfig plus verwirrtem Kubik – langsam stolpern wir durchs Wasser zu unserem Haus, dessen graue Fassade schon dicht von dunklen Wasserspuren gescheckt ist.
Ich bin sehr froh, wieder zu Hause zu sein. In der Küche ist eine Fressecke für Kubik eingerichtet, er bleibt allerdings erst im Korridor sitzen und schaut, was los ist. Sein nasses Fell riecht nach einem Fluss, wie die Spree bei der Museumsinsel am späten Abend. Auf dem Herd wartet ein Topf Borschtsch auf uns. Ich mache den Deckel auf: vorzüglicher Anblick, herrlicher Duft. Wann hat sie das gelernt?
Er hat wieder angerufen, sagt Marina.
Wer? – Ich beuge mich tiefer über den leeren, rot angelaufenen Teller.
Nicht
er
. – Marina räumt laut schmutziges Geschirr vom Tisch. – Herr Seitz. Ich glaube, du musst ihn besuchen.
Du hast ihn aber früher nicht gemocht.
Ich meinte nur, dass er zu alt für dich ist. Mehr nicht.
Er ist aber nicht jünger geworden.
Eben das meine ich. Ihr wart immerhin Freunde.
Ich muss erst ankommen, dann rufe ich ihn an. Dieser Tage. Erst möchte ich Kubik sein Revier zeigen.
Als wir nach einer Stunde hinausgehen, kneife ich vor dem Lichtschock die Augen zusammen. Die Regenwolken sind davon, die Sonnenstrahlen wischen den Bürgersteig trocken, über dem nassen Asphalt schweben hauchdünne Dampffetzen. Neugierig wie eine Touristin blicke ich auf dieses vom Schauerregen frisch geputzte Berlin, und im Gegenzug tut es sich vor mir groß: Alexanderplatz, Rotes S-Bahn-Viadukt, Fernsehturm, die spitze Kuppel der Marienkirche. Kubik rebelliert wieder gegen die Leine, es dauert, bis wir den grauen Tempel der Volksbühne am Ende der ruhigen Rosa-Luxemburg-Straße erreichen. Mein Penner mit der Mähne aus verfilztem Haar ist immer noch da. Er steht neben seinem Strohbett vor der Theaterkassenbude und redet mit der
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