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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Dosen.
    Die Wende kam in den trägen Provinzen mit sehr viel Verspätung an und mutierte auf ihrem Wege nach Süden zu einer großen Korrosion. Die Stadt war damals wie ein frisch ausgegrabenes Pompeji, da der Umbau in der ersten Phase der Zertrümmerung stehengeblieben war, und für weitere Manipulationen mangelte es an Elan und an Mitteln. In den Bürgersteigen gähnten Löcher, in den Gräben sträubten sich kaputte Rohre – ein riesiges zerrissenes Wurzelwerk, die aufgeschlitzten Eingeweide der Stadt. In den Haufen frischer Erde steckten Schaufeln, die Arbeiter standen daneben mit goldglänzenden Bierdosen in den schwarzen, rissigen Händen. Es ballte sich die nächste Exodus-Welle zusammen: Juden, Griechen, Deutsche – diejenigen, die eine Ersatzheimat hatten und noch nicht ausgereist waren, packten nun doch ihre Koffer. Die Verbliebenen besorgten sich voluminöse rot-blau-weiß-karierte Plastiktaschen – hässliche Maskottchen der Transition vom senilen Sozialismus zum pubertären Kapitalismus.
    Der öffentliche Verkehr war fast lahmgelegt. Anstelle schwerer dottergelber
Ikarus
-Busse flitzten verstaubte, scheppernde Transporter durch die Stadt. Die potenziellen Fahrgäste liefen in kleinen Rudeln den flinken Minibussen hinterher, da die Haltestellen zwar demokratisch bestimmt, aber kaum markiert waren. Überall feierte man den Siegeszug der Demokratie. Auch im kleinen Park neben dem Fleischkombinat: die obsoleten blauen Tannen (mit denen unsere Stadt den Roten Platz belieferte) wurden herausgerissen, und die Hauptallee wurde mit Ginko-Setzlingen bepflanzt, die der damalige Bürgermeister unter großem Aufwand irgendwo im Ausland aufgetrieben hat. Er war ein eifriger Reformer und ein eitler Hahn – die Reportage von der pompösen Zeremonie wurde sogar im überregionalen TV-Kanal ausgestrahlt, so dass ich sie von Sankt Petersburg aus verfolgen konnte:
Die Demokratie soll auch in unserem fruchtbaren kaukasischen Boden Wurzeln schlagen!
    Es war Winter. Der Schnee, der mit seinen schmutzigen Lumpen die Straßen säumte, betonte das irdische Elend noch, anstatt es zu verschleiern. Die Fabriken standen still, ihre von Geistern und Pennern besetzten Gelände verwandelten sich in furchteinflößende Landschaften wie aus Andrei Tarkowskis Film ‚Stalker‘. Die Menschen ließen an ihren Häusern die Fenster vergittern. In den ebenfalls vergitterten
Sojuspresse
-Zeitungskiosken und den
Nebukadnezar
-Schusterbuden nisteten sich Wechselstuben ein. Die ausgetrockneten Blumenbeete sahen wie Strohhaufen aus, dazwischen von herrenlosen Straßenhunden angelegte Kuhlen.
    Es gab sorgfältig gekleidete Männer, gegen die auch die vergitterten Fenster nicht halfen: sie klopften an die Türe und boten das ewige Leben oder andere sensationell nützliche Dinge feil. Geschickt hielt meine Großmutter die Stellung gegen die Zeugen Jehovas, blieb aber wie eine leichtsinnige Fliege in den Netzen von Verkäufern hängen. Sie erwarb einen Eierschneider, eine Wunderpfanne und eine Nachtlampe, deren Strahlen für Menschen gesund und für Mücken tödlich sein sollten. Als alles Geld weg war, liefen die Verhandlungen weiter und mündeten im Entschluss, einen kleinen Ausflug zur nächsten Sparkasse zu machen: Sie gingen zu dritt, meine Oma (rundlich und klein, schwarze Knopfaugen, Entennase, mit goldenen Fäden geschmücktes Kopftuch) zwischen zwei höflichen Männern, die ihr halfen, die Ratenzahlung für einen elektrischen Fleischwolf und einen Eierkocher zu arrangieren. Meine Mutter schimpfte damals auf die Oma: sie selbst allerdings steckte ihr ganzes Geld in
Herbalife
, ein Wunderpulver, das ewige Jugend versprach.
    Das mit Wasser verdünnte Pulver ergab ein leckeres milchweißes Getränk, an dem die Großmutter auch gerne nippte. Das half aber nicht: die Oma kränkelte gemeinsam mit ihrem Zeitalter dahin, und als ich damals in die Stadt kam, wirkte sie schon sehr schwach. Wenn sie sich niederlegte, gluckerte es in ihrem Brustkorb; setzte sie sich hin, schwollen ihre blau angelaufenen Füße und Beine. Die aufgedunsene Haut ihrer Beine schied eine gelbliche Flüssigkeit aus.
    Lass das! Deine Mutter kommt bald und macht mir einen Verband, sagte die Oma. Bleib nur für eine Weile hier bei mir.
    Ich blieb sitzen, sie erzählte über ihre Kindheit, über ihre toten Geschwister, nannte sie alle bei Namen. Sie wischte sich gelegentlich die feuchten Augen ab, ihre kleinen Tränen galten den schrecklichen Szenen des Hungermartyriums, das sie

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