Berliner Aufklaerung - Roman
habe mit Schreiners Tod nichts zu tun. Ich habe auch keine Ahnung, wer mich bei der Polizei denunziert haben könnte. – Es gibt da eine sonderbare Geschichte, aber darüber will ich jetzt nicht reden. Ich rufe dich morgen an.«
Anja verzichtete darauf, weiter zu bohren. Rebecca gehörte nicht zu der Sorte Frau, die Andeutungen als Reizwäsche verwendete. Wenn sie etwas verschwieg, war das keine Aufforderung, ihr das Verschwiegene langsam zu entlocken.
Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte Anja, Rebeccas Kopf an ihrer Schulter gespürt zu haben. Aus ihren Augenwinkeln konnte sie jedoch erkennen, daß Rebecca unbewegt auf ihrem Sitz saß. Sie mußte sich getäuscht haben, und es war nur ein Windhauch aus der Lüftungsanlage gewesen.
Hektors Standlicht spiegelte sich auf dem nassen Asphalt.
DIE RAUHEIT DER STIMME
Der Haferbrei auf dem Herd schlug Blasen, in der Küche roch es leicht nach angebrannter Milch. Vico lag in einer Ecke und starrte stumpf vor sich hin. Es war nicht auszumachen, ob er Rebecca schmollte, oder ob er lediglich seinen Herbstschmerz hatte. Der Regen prasselte nach wie vor gleichmäßig an die Scheiben. Rebecca füllte den fertigen Haferbrei in Vicos Suppenschüssel und stellte sie vor ihm auf den Boden. »Na komm, Vico, iß schon. Ich weiß, daß du mir böse bist, aber jetzt bin ich ja wieder da, und alles ist gut.« Rebecca holte einen großen Holzlöffel, ließ sich neben Vico auf dem kalten Küchenboden nieder und kraulte ihn mit der linken Hand hinter den Ohren, während sie ihn mit der rechten fütterte. Außer Vicos leisem Schmatzen und dem Ticken der Küchenuhr herrschte im ganzen Haus Totenstille. Es vergingen zwanzig Minuten, die benachbarte Kirchturmuhr schlug neun.
Gleich nach seiner Fütterung schlief Vico ein, Rebecca streichelte noch eine Weile seinen Kopf, dann stand sie mühsam auf, um das Geschirr von seinem Abendessen zu spülen. Sie selbst hatte keinen Hunger.
Nachdem Rebecca den Herd von angebrannten Breispritzern gereinigt und mit dem Lappen hier und dort vermeintlichen Dreck von den Kacheln weggewischt hatte, betrachtete sie noch eine Zeitlang den schlafenden Vico, dann verließ sie die Küche.
Im dunklen Arbeitszimmer leuchtete nur das rote
Lämpchen vom Anrufbeantworter – keine Anrufe. Rebecca tastete im Dunkeln nach dem Schreibtischstuhl und setzte sich auf das grüne, schon lange verblichene Samtpolster. Sie knipste die messingne Schreibtischlampe an. Auf dem Tisch lagen verschiedene Bände Aristoteles, noch so aufgeschlagen, wie sie letzten Sonntag liegengeblieben waren. Rebecca las den Satz, der ganz oben auf der Seite stand: »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.«
Rebecca erschrak vor ihrer eigenen Stimme, sie schob die Bücher von sich weg. Sie fühlte, daß sie auch heute abend nicht würde arbeiten können – ein Gefühl, das sie von sich nicht kannte und das sie beunruhigte. Die kleine, vergoldete Pendeluhr auf dem Schreibtisch tickte nervös.
Rebeccas Blick wanderte durch das Arbeitszimmer, an den bis unter die Decke ragenden, mit alten Büchern vollgestopften Regalen und an den teakholzgerahmten Kupferstichen mit Szenen aus der griechischen Mythologie entlang, am Sekretär aus Nußholz vorbei. An dem Foto über dem Schreibtisch blieb ihr Blick hängen.
Karl Friedrich Lux, der »letzte große Moralphilosoph Deutschlands« – wie sich Nachrufe und Grabredner zu versichern bemüht hatten –, war der einzige Mensch, der Rebecca auf ihrem Lebensweg stets begleitet hatte – bis vor zehn Jahren als lebende Person, dann aus seinen Büchern heraus und vom Foto herab. Klare Stirn, tiefgefurchte Wangen, verschwindende Lippen – ein strenges, ein steinernes Gesicht blickte Rebecca
an. Und sie selbst? Sie betrachtete ihre Züge, die sich in der Glasplatte über dem Foto spiegelten. Die hohe Stirn, die markanten Furchen in seitlicher Verlängerung der energischen Nasenflügel, der schmale Mund: kein Zweifel, es war das Gesicht ihres Vaters als Frau.
»Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt«. Mit einem harten Lachen schlug Rebecca das vergilbte, abgegriffene Buch in griechischer und deutscher Schrift zu. Für wenige Pendelschläge kam die kleine goldene Uhr aus dem Takt.
Der silberne Brieföffner, der am Griff in ein Relief der Göttin Athene auslief, war bei der
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