Berliner Aufklaerung - Roman
Zimmer schlafen, das stand für Anja fest. Ulf mochte bestimmt Hunde, ansonsten mußte er eben in die Küche.
Anja wußte, daß sie Rebeccas Mörder selbst suchen würde, ohne den Gedanken auszusprechen. Es war einer von jenen Entschlüssen, die Wirklichkeit werden, ohne daß man sich erinnern kann, sie jemals gefaßt zu haben.
Anja schloß die Augen und berührte mit ihren Lippen die kalte, glatte Fensterscheibe.
ZWEITER TEIL
OHNE LEITBILD
Dicke Regenbäche liefen an den großen Glasscheiben des Philosophischen Instituts hinunter. Wenn es feucht war, wirkte dieses Gebäude noch mehr wie ein Gewächshaus. Etwas schwankend auf mittelhohen Pumps rannte Anja die zwanzig Meter von Hektor zum Institutseingang. Eigentlich war sie sicher, daß sie – außer einigen Ewigstudenten – hier niemand mehr erkennen würde, dennoch hatte sie vorsichtshalber die gemäßigte Praxisverkleidung aus dunklem Hosenanzug, seidenem Männerschal, hochgesteckten Haaren und Brille gewählt. Unter dem Eingangsvordach stand Fridtjof, die linke Hand in den Regen gestreckt, und sang leise vor sich hin: Der Winter mag scheiden, der Frühling vergeh’n, der Sommer mag verwelken, das Jahr verweh’n, du kehrest mir zurücke, gewiß, du wirst mein, ich habe es versprochen, ich harre treulich dein.
Allem Anschein nach wartete er immer noch auf den Übermenschen. Anja betrat rasch das Foyer – in ein Gespräch mit dem Philosophie-Clochard wollte sie sich jetzt nicht verwickeln lassen, ihre Nerven würde sie hier und heute noch anderweitig brauchen.
Da sie geringe Lust verspürte, sich im ganzen Institut auf die Suche nach der Stimme von Rebeccas Anrufbeantworter zu machen, hatte sie beschlossen, sich erst einmal die Professoren vorzunehmen, die diese am Montag erwähnt hatte. Als erster stand Wogner auf ihrer
Liste. Nach Anjas Einschätzung war sein Verhältnis zu Rebecca nur das übliche kollegiale Desinteresse gewesen, aber immerhin hatte er Schreiner verabscheut.
Wogners Zimmer lag wie alle Professorenzimmer im Obergeschoß. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet Anja, daß es kurz vor Mittag war, die Sprechstunde somit gleich beginnen würde. Da auf der Galerie, in der Nähe von Wogners Zimmer, bereits zwei Studenten saßen, war es bestimmt kein Fehler, sich bei der Sekretärin zu erkundigen, wie voll es würde.
Frau Schneidewein tickerte am Computer, als Anja das Zimmer betrat. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, ist heute mittag noch ein Termin bei Professor Wogner frei? Es geht um ein Dissertationsprojekt.«
Frau Schneidewein blickte kurz vom Bildschirm auf, musterte Anja mit einem knappen Blick über ihre Brille hinweg und hackte mit langen, dunkelroten Fingernägeln weiter in die Tastatur. »Nein. Professor Wogner empfängt nicht ohne vorherige Anmeldung.«
»Es ist aber wirklich dringend, ich muß unbedingt noch diese Woche erfahren, ob Herr Wogner bereit ist, meine Arbeit zu betreuen.«
»Ich kann probieren, einen Termin für Sie zu machen. Versprechen kann ich Ihnen aber nichts. Wenn Sie bitte draußen warten würden.«
Anja setzte sich abseits von den beiden Studenten und begann, in ihrer Handtasche nach etwas Lesbarem zu kramen, damit keiner von den Studis auf die Idee käme, sie hätte Gesprächsbedarf. Außer allerlei Müll fand sie in der selten benutzten Tasche nur einen nahezu leeren Time-Planer und einen Notizblock. Letzterer und ein goldener Kugelschreiber würden ihre Dienste auch tun.
Anja schlug die Beine übereinander, kaute auf dem Ende des Kugelschreibers herum und sah aus wie jemand, der sich auf der Suche in seinem tiefsten Innern verirrt hat.
»Weißt du eigentlich etwas Genaues darüber, wie Frau Lux gestorben ist?«
Ohne aufzublicken, spitzte Anja die Ohren.
»Nö, hab’ nur so was munkeln hören, daß es Selbstmord war.«
»Ah ja, Selbstmord. Die Suizidrate soll in Berlin seit der Wiedervereinigung ja insgesamt stark angestiegen sein.«
»Was hat denn das mit der Lux zu tun, Mann. Die war doch total unpolitisch. Die hat bestimmt nicht mal mitbekommen, daß die Mauer weg ist.«
Anja schielte unauffällig über ihren Block. Derjenige, der zuletzt gesprochen hatte, trug einen langen Pferdeschwanz, zerrissene Jeans und ein Baumwollhemd mit bestickter Lateinamerika-Weste darüber. Der andere hatte glattgescheitelte, kurze Haare, trug eine Brille, dunkelblaue Stoffhosen und eine grüne Windjacke.
»Ich finde, da tust du ihr Unrecht. Ihre moralphilosophischen Schriften enthalten durchaus normativ
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