Berliner Aufklaerung - Roman
Vico stapfte Anja zigaretterauchend, mit hochgeschlagenem Jakkenkragen durch das Herbstlaub. Ab und zu trat sie in Laubhaufen, so daß die Blätter durch die Luft wirbelten. Sicher würde es bald schneien.
An der Stelle, wo die Uferpromenade direkt an den See führte, blieb sie stehen und starrte über die schwarze, kalt glänzende Wasseroberfläche. Ein leichter Wind kam auf, der das Wasser zu kleinen Wellen kräuselte.
ECCE HOMO
Es war ein entsetzlich langweiliger Tag gewesen. Ulf hatte bis nachmittags im Bett, in der Badewanne und vor dem Fernseher rumgelungert, ohne recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte.
Auch die BZ hatte nichts Interessantes gebracht. Was dort über das »Philosophenmassaker« gestanden hatte, wußte er sowieso schon von Anja, wenngleich sie ihm gestern abend nicht viel hatte erzählen wollen. Dabei hätte er gut noch ein wenig Unterhaltung brauchen können, als er kurz vor Mitternacht aus »Andreas’ Kneipe« zurückgekommen war. Der Abend dort war ein kompletter Reinfall gewesen: nur dieselben dickbäuchigen Schnäuzertypen um die fünfzig, die dort immer allein auf ihren Barhockern saßen und im Grunde nicht einmal das Geld hatten, sich ihr eigenes Bier zu finanzieren. Anja hatte recht, Ulf brauchte dringend Geld, doch auf richtig Arbeiten hatte er nun wirklich keine Lust. Die Kontaktanzeigen in der neuen Zitty hatten ihn auch nicht unbedingt ermutigt. Die einzige Anzeige, die nach Finanzkraft geklungen hatte, stammte von einem »sympath. Paar: W, 27, Sado/ Bi + M, 33, Maso, attr. / gutsit.«, das einen »jungen Boy (devot + hübsch kein Hinderungsgrund) für alle Arten Arbeit, Sport und Spiel in lux. Atmosphäre« suchte. Allerdings fürchtete sich Ulf ein wenig vor Sadofrauen, auch wenn sie behaupteten, Teil eines sympathischen Pärchens zu sein. Anja reichte ihm gerade.
Für kurze Zeit hatte er überlegt, ob er es nicht einmal mit dem »alten Sack (55)« versuchen sollte, der »experimentierfreudige Jung-Sados« suchte, die sich »an ihm austoben« wollten. Aber eigentlich waren Ulf diese Weicheier eher suspekt. Sie putzten einem zwar bereitwillig dreimal am Tag das Klo, aber Geld machten sie für gewöhnlich nicht locker, geschweige denn, daß sie einem sonst etwas zu bieten hatten.
Auf diese Weise entmutigt und lustlos hatte Ulf am späten Nachmittag seine Sachen gepackt, um wie jeden Mittwoch zum textilfreien Schwimmen ins Stadtbad Wilmersdorf zu gehen. Da er heute kein Geld für die Sauna hatte, war er gleich in die Schwimmhalle gegangen. Die großen Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, im Becken war es ziemlich leer. Die Szene schwitzte noch unten im Keller und würde erst gegen acht eintreffen. Ulf plazierte sein Handtuch an einem strategisch günstigen Platz gegenüber dem Eingang.
Ein textilfreier Abend im öffentlichen Hallenbad war schon eine feine Sache. In Frankfurt hatte es so was nicht gegeben, von Darmstadt ganz zu schweigen. Damals, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte, durfte er nicht einmal barfuß am Frühstückstisch erscheinen. Jetzt konnte er sogar ohne Badehose ins Schwimmbad gehen.
Ulf schlenderte zu einer der Metalleitern, die ins Wasser führten. Er stand eigentlich nicht auf Schwimmen, aber alleine am Beckenrand sitzen, bis die anderen kamen, war auch nicht lustig. Also ließ er sich ins Wasser plumpsen. Im Sommer war er einmal mit Anja an den Teufelssee gegangen. Seitdem hatte er sie nicht mehr zum Baden mitgenommen. Ulf wußte selbst, daß
er kein eleganter Schwimmer war, aber sich sagen zu lassen, daß er wie ein Dackel kurz vor dem Ertrinken aussähe, hatte er jedenfalls nicht nötig. Mit stolz erhobenem Kopf paddelte er einige Bahnen.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er am Eingang einen ausgesprochen attraktiven, großen Typen mit kurzgeschorenen Haaren, breiten Schultern, sehnigen Armen und dem hübschesten Arsch der Welt entdeckte. Ulf bildete sich ein, ihn ein paar Mal in letzter Zeit mit dem weichen Rudi zusammen gesehen zu haben. Er hatte sich damals schon gewundert, wie Rudi an einen solchen Lover herangekommen war, und jetzt, so ohne Kleider, fand er ihn noch viel atemberaubender. Ulf verfolgte fasziniert seinen Weg am Beckenrand.
»Mann, kannste denn nich’ uffpass’n, wo de hinschwimmst? «
Ulf war mit einer der wenigen Frauen, die Mittwoch abend ins Stadtbad Wilmersdorf gingen, zusammengestoßen. »Wenn du hier uff’m Rücken schwimmst, brauchst du net mir zu saache, daß isch uffbasse
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