Berliner Aufklaerung - Roman
streckte Maier-Abendroth beide Arme zur Begrüßung aus. »Ah, Frau Sommer! Ist es nicht wunderbar hier? Diese Stille, die gleichzeitig voller Leben pulsiert, und diese Weite, die einen dennoch vertraut umfängt?« Maier-Abendroth beschrieb mit dem rechten Arm einen weiten Bogen über den Kanal. Anja folgte seiner Geste, deren Ziel sich im Nebel verlor. Mit einigen vorsichtigen Schritten gelangte sie zur Haustür und ließ sich von Maier-Abendroth die Hand drücken. »Ich bin so froh, daß Sie den Weg nach hier draußen gefunden haben, Frau Sommer. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig diese Atmosphäre für mein Schaffen ist, ja beinahe möchte ich sagen, daß meine Arbeit ohne sie gar nicht zu denken wäre.«
Anja klapperte leicht mit den Zähnen, sie spürte, wie die nasse Kälte langsam an ihren Beinen hinaufkroch. »Ja, sehr ruhig haben Sie’s hier. Wirklich zu beneiden. «
Wie die Sonne an grauen Tagen zog ein Strahlen über Maier-Abendroths Gesicht. »Als ich nach der Wiedervereinigung zum ersten Mal in diese Gegend kam, hatte ich gleich das Gefühl, daß meine Suche nun endlich ihre Erfüllung gefunden hat. Es dauerte keinen Monat, bis ich dieses Haus entdeckt und gekauft hatte. Seit über drei Jahren ziehe ich mich nun jedes Wochenende hierher zurück, um neuen Atem zu schöpfen.«
Anja hoffte, daß Maier-Abendroth seine Freilandausführungen bald beenden würde, die Kälte war ihr inzwischen empfindlich in die Knochen gestiegen.
»Bei klarerem Wetter können Sie über den Kanal bis
nach Lehde schauen, und dort hinten beginnt dann der eigentliche Spreewald.« Wiederum deutete Maier-Abendroth mit dem rechten Arm in den Nebel.
»Entschuldigen Sie, aber ich fürchte, ich würde lieber im Haus weiter mit Ihnen reden, ich hatte nämlich gerade eine Grippe und muß noch ein wenig auf mich aufpassen.«
Mit einem trockenen Räuspern beendete Maier-Abendroth seinen touristischen Rundblick durch den Nebel. »Selbstverständlich, Frau Sommer, wie unhöflich von mir. Aber Sie sehen, ich könnte ganze Tage hier in der Tür stehen, nach draußen schauen und darüber die Welt vergessen.« Maier-Abendroth strich sich eine silbergraue Strähne aus der Stirn und trat zur Seite, um Anja zuerst eintreten zu lassen. Mit Wohlbehagen registrierte sie den dunkelbraunen Kachelofen, der rechts in der hinteren Ecke des niedrigen Raumes brannte. Allerdings hatte sie selbst in Kreuzberg und Neukölln zu lange in Ofenwohnungen gelebt, um einer Holz- und Kohlenromantik verfallen zu können.
Neben dem Kachelofen führte eine Tür vermutlich ins Schlafzimmer, den vorderen Raum schien Maier-Abendroth als Wohnküche und Arbeitszimmer zu nutzen. Auf dem kleinen weißen Holztisch an einem der Fenster zum Kanal stand eine alte »Olympia« mit eingespanntem Blatt, links von ihr lag ein Stapel unbeschriebenen, rechts ein Stapel bereits beschriebenen Papiers. Die Nessel-Vorhänge vor dem Fenster waren aufgezogen.
»Das ist also meine bescheidene gute Stube. In unserer übersättigten Welt habe ich die Kargheit der hiesigen Lebensart mehr und mehr zu schätzen gelernt.« Maier-Abendroth hantierte etwas unbeholfen an dem
alten Kohlenherd mit Wasserkessel und metallener Kaffeekanne herum. »Aber bitte, Frau Sommer, setzen Sie sich doch.«
Anja setzte sich auf einen Holzschemel an den Küchentisch, von dem aus man den diesigen Blick auf ein entfernteres Nachbarhaus hatte. Die zerquetschten Mücken auf der Fensterscheibe mußten noch aus dem letzten Sommer stammen.
Auf dem Tisch standen mehrere Gläser und Tassen, zwei der Gläser trugen an der Kante die Spuren dunkelroten Lippenstifts. Anja sagte sich, daß sie Maier-Abendroth in jedem Fall falsch eingeschätzt hatte: Entweder hielt er sich hier doch nur seine weibliche Wochenendgeliebte, oder aber seine versteckte Neigung galt nicht nur einfach Männern, sondern Transen. Verstohlen warf sie einen Blick zu der geschlossenen Tür am hinteren Ende des Raumes.
Maier-Abendroth war indessen weiter mit der Kaffeezubereitung beschäftigt. »Sie müßten unbedingt einmal im Frühjahr hierherkommen, es ist überwältigend mitanzusehen, mit welch originärer Kraft die Natur hier aus ihrem langen Winterschlaf hervorbricht.«
Anja starrte weiter unverwandt auf die Tür neben dem Kachelofen.
Maier-Abendroth holte aus einem alten Bauernschrank zwei Tassen, die er zu den benutzten auf den Küchentisch stellte. »Haben Sie mit Ihrem Artikel bereits begonnen?«
»Äh, was? Wie bitte?« Anja
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