Berliner Zimmer - Roman
ansahen, wirkte sie auf mich wie eine alte Maus, die jegliche Angst vor anderen Tieren längst abgelegt hatte. Ich schätzte sie auf Ende siebzig, aber sie konnte durchaus auch über achtzig sein.
Mit einer Bewegung ihres Gehstockes winkte sie mich näher. Von oben hörte man, wie die Möbelpacker von vorhin das Sofa im Flur abstellten, sie schimpften immer noch miteinander, und dann das Summen einer Klingel. Die Frau in der Türöffnung fragte mich, was ich hier zu suchen hätte. Sie habe mich hier noch nie gesehen.
Ich sagte ihr meinen Namen, fragte sie, ob sie Klara Hubmann wäre, und wollte meine hundertmal zurechtgelegte Frage nach meinem Vater stellen, aber die Alte zeigte mit der Hand auf ihr rechtes Ohr und schüttelte den Kopf.
„Nicht hier“, sagte sie, „kommen Sie.“
Sie trat beiseite und ich ging voraus in den Flur ihrer Wohnung. Nachdem sie die Wohnungstür fest verschlossen hatte, blieb sie im Eingang zur Küche stehen.
„Man hört so schlecht“, erklärte sie, „bei diesem Lärm, der seit Tagen hier herrscht.“
„Wohl ein Umzug“, sagte ich, und Frau Hubmann trat voraus in die kleine Küche, ohne auf meine Bemerkung zu antworten. Die weiß lackierten Möbel schienen nicht viel jünger zu sein als Frau Hubmann, ebenso der Gasherd neben der Spüle. Das Mittagslicht ließ die großen Fenster aufleuchten.
„Verzeihen Sie“, sagte die kleine Frau, „aber manchmal ist es nicht auszuhalten.“ Dann forderte sie mich auf, mich an den Tisch zu setzen.
Ich sagte ihr, wieso ich hier war, und wiederholte mehrmals den Namen meines Vaters. Während ich ihn aussprach, versuchte ich zu erkennen, ob sich ihre Miene veränderte.
„Er ist tot“, sagte ich, „mein Vater ist vor einigen Monaten verstorben und durch Zufall sind wir in seinen Papieren auf Ihren Namen gestoßen. Klara Hubmann. Das sind Sie doch?“
„Ja, so heiße ich“, sagte die Frau. „Aber ob ich die Einzige bin mit diesem Namen, das kann ich nicht beschwören.“
„Im Telefonbuch“, sagte ich, „gibt es nur eine Klara Hubmann in ganz Berlin.“
Frau Hubmann war zwischen Tür und der kleinen Tischgruppe stehen geblieben, sie legte ihren Stock auf das Sofa, das am Fenster stand, und hielt sich an seiner Lehne fest.
„Erwin Stockner“, wiederholte ich den Namen meines Vaters, „so hieß er.“
Klara Hubmann drehte sich von mir weg und blickte aus dem Fenster auf die heruntergekommene gegenüberliegende Hausfassade, dabei schüttelte sie kaum merklich ihren kleinen Kopf. Es schien, als müsste sie ein Bild zu diesem Namen suchen, als blätterte sie Seite für Seite durch in ihrem Erinnerungsbuch.
Halblaut wiederholte sie den Namen meines Vaters und plötzlich drehte sie sich zu mir um.
„Und auf einmal wird man gesucht“, sagte sie endlich. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und dabei lachte sie leise vor sich hin.
Mir war nicht klar, was ihre Antwort bedeuten sollte.
„Er war hier in Berlin“, sagte ich, „als Wehrmachtssoldat. Um 1944 muss das gewesen sein. Aber eigentlich kam er aus Tirol.“
Frau Hubmann drehte sich weg, öffnete den Küchenschrank und stellte eine geblümte Tasse vor mich hin, dann setzte sie sich mir gegenüber und sagte, während sie sich wieder zum Fenster drehte: „Ach, die jungen Soldaten. Aus der Kaserne, ja, sie marschierten unter unserem Haus vorbei zum Übungsplatz oder wie das hieß, jeden Tag. Wie lang ist das her, dreißig Jahre …“
„Sechzig“, sagte ich, „wenn wir dasselbe meinen.“
Frau Hubmann stockte in ihrer Bewegung und sprach nicht mehr weiter.
Ich sah sie an und wartete. Sie blickte aus dem Fenster, murmelte etwas vor sich hin, halblaut, etwas, das ich nicht verstand. Es war, als redete sie mit sich selbst. Vielleicht versuchte sie, das Rad der Erinnerung in ihrem Kopf in Schwung zu bringen, indem sie ihm Wörter in die Schaufeln warf wie bei einem Mühlrad.
„So viele Jahre, wer hätte das gedacht“, sagte Frau Hubmann dann etwas lauter, aber immer noch zu sich selbst, und schüttelte wieder ihren Kopf. Mich schien sie von einem Augenblick auf den anderen vergessen zu haben. Sie blickte weiter auf die von breiten Mauerrissen durchzogene Fassade des Nachbarhauses und beugte ihren Kopf nach unten, so als wollte sie wieder auf die vorbeigehenden Soldaten sehen, von denen sie gesprochen hatte.
Als ich mich räusperte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf und drehte sich zu mir. Sie sah mich an, und ich hatte den Eindruck, als forschte sie in
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