Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
hoch und machte mich bereit für das Frühstück. Als ich mit vollem Magen zurück in mein Zimmer kam, hatte ich das Gefühl, auf der Stelle einschlafen zu können, aber unten wartete bereits das Sammeltaxi, das die Kongressteilnehmer nach Hennigsdorf brachte.
    Als meine Kollegen sich nach der Pause auf den Weg zum Vortragssaal machten, verließ ich das Hotel über den Parkplatz auf der Rückseite und suchte den nächsten S-Bahnhof, um in meine Pension zurückzukehren. In der Bahn setzte ich mich in einen leeren Waggon, welcher mich an das im ersten Vortrag skizzierte Schülerhirn denken ließ und an all seine Synapsen und lerntheoretischen Zahnräder, die nur darauf warteten, dass ein Lehrer sie mit dem richtigen Schalthebel in Gang setzte. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss es, den leeren Tag vor mir zu haben. Gerade als die Bahn mit einem leichten Rucken anfuhr, öffnete sich die Durchgangstür zum nächsten Waggon, ein weißhaariger Mann trat in die Tür und tastete mit zittriger Hand nach dem Haltegriff an der Lehne des nächsten Sitzplatzes. Er schaffte es, sich festzuhalten, und ließ sich mit einer Drehung in den Sitz fallen, dann legte er behutsam seinen Gehstock über die gegenüberliegenden Sitze des Abteils, als hätte er Angst, ihn zu verlieren. Vielleicht aber wollte er auch nicht, dass sich jemand in seine Nähe setzte.
    Mein toter Vater war hier in Berlin gewesen und wenn er nach dem Krieg nicht zurückgekehrt, sondern hiergeblieben wäre, fiel mir ein, könnte es passieren, dass wir uns über den Weg liefen, ohne uns zu kennen. Durch Zufall, in der S-Bahn oder in einer Seitengasse in der Nähe meiner Pension. Aber irgendetwas war falsch an diesem Gedanken. Bestimmt war es der Schlafentzug, der mir in meinem Hirn die Bahnen für Gedankengänge geöffnet hatte, welche alles gleichzeitig möglich sein ließen. Dass man jemandem begegnete, der nichts mit einem zu tun hatte, und doch der eigene Vater war. Dass man sich an dessen Tod erinnerte, als wäre es gestern gewesen, dass man jedes kleinste Detail präsent hatte von der Beerdigung und vom nicht lackierten, sondern mit Bienenwachs gebeizten Ökosarg, den wir für ihn ausgesucht hatten, und von den Augenblicken der hilflosen Trauer, die ich mit Alma geteilt hatte. Und quer darüber lief der Gedanke, dass derselbe Mann durch Berlin spazierte, wohin ihn ein Schicksal vor über fünfzig Jahren verschlagen hatte, und dass ich ihm über den Weg liefe oder er mir, und wir würden miteinander sprechen wie zwei Fremde, die wir ja wären.
    Auch der Alte, der soeben das leere Abteil der S 25 von Hennigsdorf nach Teltow Stadt betreten hatte, könnte es sein, warum nicht.
    „Das bist du also“, sagte ich vor mich hin.
    „Lass mich in Ruhe“, würde er gleich sagen, ohne aufzuschauen, ohne mich anzublicken, da war ich mir sicher, „lass mich einfach in Ruhe.“
    Der Mann sah unverwandt durch die verschmierten Fenster nach draußen (moosig-feuchte Waldgebiete, später dann Vorstadtruinen, verwahrloste Bauwerke übersät mit Graffitis, auf den Bahnsteigen schwarz verschleierte Frauen und Mädchen mit bunten Kopftüchern) und würdigte mich keines Blickes. Für einen Moment fühlte ich mich zurückversetzt in meine Autofahrten mit Vater ins Krankenhaus, wo er für sich allein sein wollte, allein mit seinen Gedanken und der Vorstellung des Dunkels.
    Erst als der Alte sich seufzend bückte, um seinen Gehstock aufzuheben, welcher beim Anbremsen der Haltestelle von der Sitzbank gerollt war, wurde mir die Verschrobenheit meiner Gedankengänge bewusst. Die Station hieß Gesundbrunnen, ich schwor mir schlafen zu gehen und war froh, dass ich ihn nicht angesprochen hatte.
    In der Nähe meines Hotels fand ich einen Souvenirladen, der neben Plüschbären, T-Shirts mit dem Aufdruck des Brandenburger Tores und bunten Bierkrügen auch Postkarten und Schreibutensilien führte. Ich suchte nach einem Geschenk, das ich Alma mitbringen konnte, fand aber nichts Passendes. Ich kaufte mir ein schwarz gebundenes Heft mit Zeilen und einem kartonierten Umschlag, das mich an die Hefte meiner eigenen Schulzeit erinnerte. Erst als ich das Geschäft verließ, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht danach gesucht hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein. Nach einem Tagebuch, nach einer Möglichkeit, in all der Verwirrung etwas festzuhalten, ein paar Gedanken, ein paar Sicherheiten, wenn es sie gab. Halten sich Ertrinkende nicht auch an allem fest, was sie greifen

Weitere Kostenlose Bücher