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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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können?
    In meinem Pensionszimmer legte ich das dünne Papier, auf dem Vater als knapp Dreißigjähriger bei seiner Hochzeit zu sehen ist, zwischen den Umschlag und die erste Seite des Hefts. Angelina hatte mir das einzige ältere Foto von Vater, das sie in ihrem Haushalt auftreiben konnte, per Fax ins Hotel geschickt. Es zeigt ein junges Paar, Mama mit seidig glatter Haut ist eine richtige Schönheit, was mir erst jetzt auffiel, und daneben mein Vater genauso glatt retuschiert, sein welliges Haar von der Stirn nach hinten gekämmt. Dünne Krawatte, Anzug mit einem kleinen Gesteck am Revers, ein breites Lachen, das sich über sein ganzes Gesicht zieht. Ich werde das Flatterpapier zu Frau Hubmann mitnehmen, es auf ihrem Tisch glattstreichen, wenn ich sie morgen besuche. Was sie wohl sagen wird?
    Ich legte das Heft samt Vaters Abbildung auf das kleine Sprelacart-Tischchen, das unter dem Fenster stand. Ich ahnte, dass ich keinen einzigen Satz schreiben würde, aber allein die Vorstellung, dass es möglich wäre, das, was man erlebte, das, was man dachte, durch Aufschreiben zu verdoppeln oder zu spiegeln, erregte mich. Noch während ich mich fertig machte, zur Mittagszeit ins Bett zu gehen, überlegte ich mir Sätze, mit denen man ein Tagebuch beginnen könnte.
    Seit Tagen schon finde ich mich auf der Suche. Nach meinem toten Vater, nach seinen unsichtbaren Jahren, nach dem, was niemand weiß. Vielleicht könnte man so beginnen, warum nicht. Dann aber streiche ich alles in Gedanken wieder durch, zweimal, dreimal, aus so einfältigen, platten Sätzen kann nichts werden. Oder vielleicht sollte ich weniger streng sein. Erste Sätze sind doch immer bedeutungslos, rede ich mir ein, nur übungshalber hingeschrieben, wie um die Feder auszuprobieren, die Farbe der neu erworbenen Tinte oder die Beschaffenheit des Papiers.

12
    Je länger ich schrieb, desto deutlicher wurde mir, dass man mithilfe von ein paar Sätzen imstande war, eine Wirklichkeit zu konstruieren, und dass man diese zwei Sekunden später wieder zerstören konnte, als wäre nichts geschehen. Als wäre nichts passiert. Oder doch nicht? Blieb doch etwas zurück? War es nicht so, dass sich mit jedem Satz, den man schrieb, auch wenn man ihn gleich darauf wieder durchstrich, ausradierte, ein Sediment niederließ, das einem den Blick auf die Dinge um eine Nuance veränderte, um einen Ton anders einfärbte.
    Manchmal stellte ich mir vor, wie ich mit Vater redete. Ich liege im Bett meines Berliner Zimmers und dann gehe ich zu unserem Treffpunkt, einem Café oder einer Kneipe, hier in dieser Stadt, die mir in allem fremder ist als ihm.
    Ich habe mir gut überlegt, was ich ihn fragen werde, habe mir meine Fragen aufgeschrieben und zurechtgelegt. Warum, beginne ich meine Rede, warum, aber gleich verlieren sich unsere Gespräche in Alltagsbanalitäten, in Diskussionen über die geeignete Farbe von Dachziegeln oder wir streiten über einen Autotyp. Und wenn ich ihn darauf hinweise, dass es mir um ganz anderes geht, dann sagt er, er habe mir nichts zu erklären. Er will mir keine Auskunft geben, beharrt darauf, dass er mir keine Antwort schuldig sei. Manchmal habe ich die Vorstellung, dass ich unsere Gespräche plötzlich abbreche, indem ich aufspringe, ihn am Kragen packe und ihn anschreie, was er hier eigentlich noch mache.
    Im Wohnblock vis-a-vis meiner Pension gehen langsam die Lichter aus und je dunkler die Fassade wird, desto heller wird der Himmel über den Dachkanten. Ein Schimmern, das sich in den Dingen der Welt spiegelt, in den Fensterflächen und in den Dächern der geparkten Autos, unten auf dem Parkplatz des Hotels. Und dann auch im Rumpf des Flugzeugs, das hinter dem Horizont der Dächer auftaucht, mit leisem Grollen und verwirrend nah. Der Flughafen Tempelhof, fällt mir ein, liegt mitten im Stadtgebiet. Aber sollte er nicht längst geschlossen sein? Über die Tragflügel gleitet das Licht dahin und verlöscht plötzlich im Dunkel. Und über meinem aus dem Fenster gestreckten Kopf gleitet die Maschine dahin, zieht eine weite Schleife über die Stadt hinaus, um dann weiter draußen in der finsteren deutschen Nacht zu verschwinden.
    Später sehe ich mich ihm gegenübersitzen, kopfschüttelnd. Das Café heißt Einstein, erinnert mich mit seinen Tischchen und Rüschen an ein Wiener Kaffeehaus, aber ich weiß nicht, ob das gewollt ist.
    „Fang an“, sage ich.
    Der Kellner kommt an unseren Tisch, Vater bestellt einen Einspänner , der Ober quittiert die Bestellung

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