Berliner Zimmer - Roman
im kecken Hütchen und dem griechischen Faltenwurf. Sie beugt sich über mich, der ich neben meinem Vater liege.
Im Bett neben meinem Vater.
Das ist doch ein Wachtraum, eine Schlaflähmung, sage ich zu mir selbst, wach endlich auf. Aber ich kann meine Glieder nicht bewegen, steif die Arme, wie eingefroren die Beine.
Die Sehnsucht, höre ich Klaras Stimme, die Sehnsucht über all die Jahre hinweg.
Die Sehnsucht, die schwankte, aber die immer da war.
Die nie verblasste.
Und in den letzten Jahren ist sie wieder gewachsen.
Mit der Gewissheit, dass die Zeit abläuft, wird die Sehnsucht größer.
Nur einmal noch ihn ansehen, meinen Namen aus seinem Mund hören, mehr wollte ich nicht.
Meer, Meer, von irgendwo rauschen Wellen in meinem Gehörgang.
Und da ist Almas Stimme in meinem Ohr, kreischend, wie panisch fast.
„Was ist los? Sag mal, schläfst du, Papa?“
„Nein“, höre ich meine eigene Stimme, plötzlich kann ich meine Arme bewegen und werde mir bewusst, dass ich weggedämmert bin, weit weg von Almas Schulaufsatz. Die Kissen zusammengedrückt in meinem Rücken, mein Gesicht zur Seite gedreht, das Mobiltelefon zwischen Ohr und Bettkante gequetscht. Ich muss eingeschlafen sein und Alma hat ihren Aufsatz zu Ende gelesen, ohne dass ich es mitbekommen habe.
„Warum antwortest du mir dann nicht?“, fragt Alma vorwurfsvoll, in einem Tonfall, der mir bekannt vorkommt.
„Verzeih“, sage ich, „verzeih mir, ich habe so wenig geschlafen letzte Nacht.“
„Schon okay“, sagt Alma.
„Danke, mein Schatz.“
„Ich kann mich gut in andere Personen hineinfühlen, hat meine Lehrerin dazugeschrieben.“
„Da hat sie bestimmt recht“, sage ich.
„Meinst du, ich soll Psychologin werden?“, fragt Alma.
„Auf jeden Fall“, sage ich. „Wo ist denn deine Mutter?“
„Unten“, sagt Alma (lachend) und merkt nicht, dass ich schlucke, und erklärt, „unten im Keller, beim Sortieren der Einweckgläser oder was weiß ich.“
15
„Wie war das, Vater“, sage ich, während ich ihm die Speisekarte hinlege, „versuch doch, dich zu erinnern. Wo zum Teufel warst du überall im Einsatz?“
Ich insistiere, diesmal lasse ich ihn nicht auskommen. Jetzt, wo Klara mitgekommen ist und neben ihm Platz genommen hat, vielleicht spricht er da.
„Du hast keine Ahnung“, höre ich Vater sagen. „Was weißt du denn schon von Erinnerungen?“
„Genauso viel wie du“, sage ich.
„Bestimmt nicht“, widersetzt er sich. „Dafür hast du doch zu wenig erlebt. Du weißt nichts von Malen im Kopf, die sich eingebrannt haben wie eine Tätowierung. Von den Brandzeichen, von den Bildern, die immer wiederkehren.“
„Was denn schon?“, sage ich.
„Das verstehst du nicht“, ärgert er sich. „Mein ganzes Leben lang habe ich dieser Frau zugesehen, wie sie das Brot schneidet, immer wieder. Ein Kanten Brot, ich hatte keine Ahnung, wo sie es besorgt hatte. Ich habe nicht danach gefragt, mich nicht getraut danach zu fragen.“
„Brot“, sage ich.
„Das verstehst du nicht“, sagt er und schließt die Augen, „wie einen ein Bild verfolgen kann. Dieser Zeigefinger, über den die Schneide des Messers streicht, diese Hände, die beinahe die Farbe des Brotes haben. Dieses helle Braun, diese Abschiedsfarbe.“
„Abschiedsfarbe“, wiederhole ich geistlos, aber Vater hört mich nicht mehr. Er hält die Augen geschlossen und spricht mit jemand anderem, nicht mehr mit mir. Ich blicke auf Klara, die ihm gegenübersitzt und zuhört. Auch sie wirkt abwesend, in Gedanken auf der Suche nach Erinnerungsbildern, in denen ein Messer vorkommt, das über Finger streicht.
„Über Jahre hinweg derselbe Traum“, fährt Vater empört fort, „ich muss wach bleiben, das hatte ich mir vorgenommen, ich werde auf der Pritsche liegen und kein Auge zutun, und beim ersten Alarm bin ich bereit. Ich werde mich aus der Kaserne stehlen, und während alles panisch in die Luftschutzkeller drängt, über den menschenleeren Exerzierplatz, werde ich durch die Straßen laufen im Feuerschein und nichts kann mir passieren. Irgendwann bin ich dort, ich habe mir die Straße gemerkt und das Haus, und während die Welt in Scherben fällt, werde ich mich in ihr Zimmer schleichen, werde sie wecken und ihr sagen, dass ich Hunger habe, unendlichen Hunger.“
„Du vergisst“, falle ich Vater ins Wort, „du vergisst, dass Klara vielleicht auch im Luftschutzkeller ist, und nicht in ihrem Zimmer verharrt, nur um auf dich zu warten. Sie ist ja nicht
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