Berliner Zimmer - Roman
verdreckten Uniform, die genauso grau war wie die Kellerwände. Es waren ja so viele Leute. Aber vielleicht ist es auch die Angst, die einen in sich selbst hineinkriechen lässt, ins letzte Versteck. Irgendwann erst, in der eigenartigen Stille nach einer fürchterlichen Detonation, die ganz in der Nähe gewesen sein musste, da sehe ich ihn neben mir. Da sehe ich dich. Du warst hingekauert, in die Ecke gekauert, und du lachtest. Du hast gelacht, lauthals gelacht, weil du noch lebtest. Du hast gelacht wie ein Verrückter.“
Vater schüttelte den Kopf mit aufgerissenen Augen. Nein, das war nicht er gewesen, konnte er nicht gewesen sein, wo ihm doch nicht zum Lachen zumute, wo er sich doch schreckensstarr verkrochen, wo er doch fast vergangen wäre vor Angst. Sein Gesicht, seine Hände waren voller Staub, der auf alles niedergerieselt war, der sich auf alles gelegt hatte, dieser Staub aus Mauerwerk und Kalk. Und zwischen den verklammerten Händen der Angstschweiß, der sich mit dem Staub vermischte und sie ineinander verklebte.
„Du hast erst aufgehört zu lachen, als ich dich berührte, als ich dich schüttelte, als du merktest, dass du nicht allein bist in diesem Keller“, sagt Klara, und Vater beißt sich auf die Lippen, vielleicht damit ihm kein Wort auskommt. Es ist Klara, die die Geschichte ihrer ersten Begegnung auferstehen lässt, wer weiß, wie oft sie sie jemandem erzählt hat, und wenn sie aufhört zu sprechen und Vater ansieht, zittern ihre Lippen.
„Mein Lachen war das nicht“, schießt es aus Vater heraus, „mir gehörte es nicht, dieses Lachen, bestimmt nicht.“
„Genau“, sagt Klara, „es gehörte nicht dir. So lacht ja kein Mensch. Es war das Lachen der Kreatur, die plötzlich begreift, dass sie wider jede Erwartung noch lebt, dass sie sehen, denken, sprechen kann. Dass ein Wunder geschehen ist. Dass das Folgerichtige, das logisch Erwartbare doch nicht eingetreten ist.“
„Ich habe mich so geschämt“, sagt Vater. Geschämt. Er spuckt das Wort geradezu aus.
„Wofür denn?“, frage ich.
Vater schüttelt den Kopf, sieht nach unten, sieht unter die Tische, auf seine Schuhe, weg von uns allen.
„Ich hatte mir in die Hosen gemacht“, sagt er dann leise, trotzig.
Ich brauche einige Sekunden, um zu verstehen. Er hatte sich in die Hosen gemacht, sagt er, und jetzt beginnt Vater zu lachen, lauthals loszulachen. Die Lachblasen quellen aus seinem Mund, schneller, immer schneller, lauter, immer lauter, bis er brüllt vor Gelächter, so dass sich alle nach uns umdrehen, das ganze Lokal. Aber nichts kann ihn hindern, auch nicht, dass der Kellner erschrocken herbeieilt und neben unserem Tisch stehen bleibt, mich fragend ansieht. Vater lacht und in sein Lachen hinein bricht er immer wieder heraus, ich hatte mir in die Hosen gemacht, regelrecht in die Hosen gemacht, lauter, immer lauter, und erst dann, als Klara beruhigend ihre Hand auf Vaters Wange legt, in einer Geste der sanften Wiederholung, ebbt sein Lachen, sein irrer Ton, langsam ab.
Dann ist es still, plötzlich, und wie um die Peinlichkeit der Situation zu übertauchen, erhebt Klara ihre Stimme, leise und bestimmt, und erzählt weiter; der Kellner entfernt sich rückwärts vom Tisch und Vater vergräbt sich wieder in sein Schweigen. Langsam drehen sich die Cafébesucher in ihr eigenes Leben zurück, weil es nichts mehr zu sehen gibt und nichts mehr zu hören. Und Klara Hubmann spricht weiter und erzählt davon, wie sie Vater mit nach oben genommen hat, in ihre Wohnung, in ihr Zimmer unterm Dach, wo alle Fensterscheiben zu Bruch gegangen waren von der nahen Detonation, und sie sagt seinen Vornamen, wenn sie von Vater spricht, nennt ihn zärtlich Erwin. In ihrem Zimmer sollte er sich ausziehen, umziehen, am Waschbecken in der Ecke sollte er sich sein Malheur vom Leib waschen, so gut es ging. Vom Leib und dann auch aus den Kleidern, aus seiner Uniformhose, die nachher hinterm Ofen an einer Leine zu hängen kommt. Er solle sparsam mit der Seife umgehen, sagt Klara und will ihm helfen, beugt sich neben ihm über die Waschschüssel.
Ich stellte mir Vaters jungen sehnigen Körper vor, im Halbdunkel eines Berliner Zimmers, und die Blicke einer jungen Frau, die neben ihm steht, die auf dem Bett dahinter sitzt (wo sollte sie auch hin), die ihm zusieht, wie er sich wäscht und dann seine Kleidung, ihn betrachtet mit einer Mischung aus Mitleid und Neugier. Die Bombengeschwader sind abgezogen, was zurückbleibt, ist der taghelle Schein der
Weitere Kostenlose Bücher