Bernstein Verschwörung
Behälters
erstarrt. In dieser Schachtel hatte er all seine Erinnerungen
aufbewahrt. Sie war ihm geblieben und hütete alte Briefe und
Fotos.
Unglaublich, dass sich
ein ganzes Leben in eine einzige Schachtel packen
ließ.
Jetzt war er ein alter
Mann, am Ende seines Lebens angekommen, das spürte er. Was von
ihm übrig bleiben würde, befand sich in der nach
Mottenkugeln riechenden Schachtel auf seinem Schoß. Beinahe
zärtlich strich er über den vergilbten Karton, der an den
Ecken mit eisernen Kantenschützern beschlagen war. Das Metall
war stumpf geworden, was sicherlich daran lag, das es um die
fünfzig Jahre alt war. Doch die Schachtel hatte sich im Laufe
der Jahre als stabil erwiesen. Der alte Mann zögerte, dann
nahm er den Deckel der kleinen Kiste ab und warf einen Blick
hinein. Er sah an den Rändern gezackte
Schwarzweiß-Fotografien und vergilbte Briefe, die jemand vor
vielen Jahrzehnten in einer schwungvollen Handschrift verfasst
hatte. Die Tinte verblasste langsam, und das Papier war dünner
geworden - so erschien es ihm. Einigermaßen erleichtert
stellte er fest, dass die Zeit nicht nur an ihm nicht spurlos
vorübergegangen war. Mit einem versonnenen Gesichtsausdruck
nahm er nach und nach die alten Dokumente aus dem Behältnis
und legte sie neben sich auf das Bett. Fotos aus Kriegstagen; sie
zeigten ihn in der Uniform eines Soldaten. Er musste sich
eingestehen, damals ein stattlicher Mann gewesen zu sein. Doch er
war seiner Frieda stets treu geblieben. Viel hatten sie gemeinsam
erlebt, und sie hatten immer zueinander gestanden. In guten und in
schlechten Zeiten, so wie es der Pfarrer gesagt hatte. Mehr als ein
halbes Jahrhundert waren sie verheiratet gewesen, und so warf er
einen traurigen Blick auf das vergilbte Hochzeitsfoto, das das
junge Paar frisch vermählt zeigte. Er in Uniform, sie in einem
weißen Kleid. Seine Ehe erschien ihm plötzlich wie ein
anderes Leben. Und so erwischte er sich dabei, nachzurechnen, wie
lange Frieda schon nicht mehr lebte. Sechzehn Jahre war er schon
allein auf dieser Welt, stellte er betrübt fest. Blum seufzte
und legte die Bilder seiner Frau beiseite. Er konzentrierte sich
auf den Inhalt des Kartons und fand schließlich, wonach er
gesucht hatte. Mit zittrigen Fingern entnahm er der Kiste einen
großen, braunen Umschlag. Dies war er also, sein Schatz.
Vorsichtig öffnete er das Kuvert und zog die Unterlagen
hervor. Ihm fielen einige Schwarzweißfotos in die Hand. Als
er den Mann in Uniform betrachtete, schüttelte er den Kopf.
Die Schrecken seiner Vergangenheit erwachten zu neuem Leben. Der
Mann auf dem Foto war einer der größten deutschen
Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs, und seine Wurzeln lagen
hier in Wuppertal. Er hatte 400.000 Juden ins Lager gebracht,
darunter auch die Familie von Gustav Blum. Zahlreiche Gerüchte
rankten sich um den Mann, der in Wuppertal aufgewachsen war und
zunächst bei der Reichsbahn Karriere gemacht hatte, bevor er
in den Kriegsdienst gewechselt war. Als er 1938 von Hitler zum
Gauleiter ernannt worden war, nahm das Unheil seinen Lauf. Nach den
Kriegswirren war Hitlers Satrap in Polen inhaftiert und 1959 zum
Tode verurteilt worden. Dabei saß er in einem Gefängnis,
das er selber hatte bauen lassen - welch Ironie des Schicksals. Das
Todesurteil wurde nie vollstreckt, weil Erich Koch angeblich etwas
über den Verbleib des Achten Weltwunders wusste. Erst 1986
verstarb Koch im Alter von 90 Jahren. Mit seinem Tod hatte man es
aufgegeben, die Spur des Bernsteinzimmers noch einmal
aufzunehmen.
Doch Gustav Blum
wusste es besser. Er hatte vor vielen Jahren in Polen die privaten
Unterlagen von Erich Koch erworben. Unter anderem ein Testament des
alten Mannes. Und einige Unterlagen, die für Wuppertal von
großer Bedeutung sein würden, wenn er das Geheimnis
lüftete. Nachdem er die Pappschachtel neben sich auf das Bett
gestellt hatte, widmete er sich einer Skizze, die den Grundriss
eines Gebäudes darstellte. Der alte Mann faltete das
große Papier auseinander und betrachtete die Zeichnung
nachdenklich. Er war sicher, dass dies der Schlüssel zu einem
unglaublich gut gehüteten Geheimnis war. Es gab nicht mehr
viele Menschen, die mit der Skizze etwas anfangen konnten. Doch er
wusste, was sich dahinter verbarg. Und er hatte sich dem Jungen
anvertraut. Er hatte ihm getraut und alles auf ihn gesetzt. Zweifel
plagten Gustav Blum. War sein Plan jetzt zum Scheitern verurteilt?
Der alte Mann wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
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