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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Straße abzusuchen, legte sie einen Pfeil an die Sehne des Bogens. Immer noch verlassen. Sie sah sich unruhig um, sah die nebelverhangenen, silber-blau-grünen fernen Berge, sah die aufragenden Finger geborstenen Eises, einst größer als sie selbst, aber mittlerweile verstümmelt an den Ufern eines nahen Sees tauend. Des Sees, wo sie im vergangenen Sommer …
    Eine hastige Bewegung, ein unnatürliches Geräusch lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder zur Straße. Spannung ließ ihre sonst geschmeidigen Bewegungen eckig wirken, während sie den trillernden Pfiff ausstieß, nach dem ihre Leute sich an ihre Plätze entlang der Straße begaben. Endlich. Als sie sich geflissentlich vornüberbeugte, um einen ersten Blick auf Klovhiri zu erhaschen, sah sie den Führer, gefolgt von dem Schlitten, der ihre Schwester und deren Kinder transportierte. Sie zählte die Männer der Eskorte, die langsam alle in ihr Blickfeld traten. Aber Klovhiri … wo war Klovhiri? Sie drehte sich zu Chwiul um und flüsterte ihm fragend etwas zu: „Wo ist er? Wo ist Klovhiri?“
    Chwiuls Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen Schuld und Hinterlist. „Aufgehalten. Er blieb zurück – er sagte, es gäbe noch Fragen bei Hof …“
    „Warum habt Ihr mir das nicht gesagt?“
    Er zog heftig am Zügel des Bliell. „Es ändert nichts! Wir können trotzdem seine Familie auslöschen. Das sichert mir die direkte Erbfolge, und Klovhiri können wir auch später noch beseitigen.“
    „Aber ich selbst wollte vor allem Klovhiri haben.“ T’uupieh hob den Bogen, der Pfeil zeigte auf sein Herz.
    „Man wird wissen, wer die Schuld trägt, wenn ich sterbe!“ Er spreizte defensiv einen Flügel. „Der Oberlord wird sich von dir abwenden, dafür wird Klovhiri sorgen. Nimm Rache an deiner Schwester, T’uupieh, und ich werde dich trotz allem reich belohnen, wenn du mir gehorchst!“
    „Wir hatten unsere Bedingungen ausgemacht!“ Inzwischen konnte sie den Lärm der herannahenden Gruppe deutlich vernehmen. Sie hörte schrilles Kinderlachen. Ihre Gesetzlosen warteten nur auf ihr Signal, und sie sah, wie Chwiul sich darauf vorbereitete, dem Führer das vereinbarte Zeichen zu geben. Sie sah den Dämon an, dessen Bernsteinauge auf die Reisenden unten gerichtet war. Sie ging auf ihn zu. Er konnte immer noch das Schicksal für sie verändern. Oder hatte er das bereits?
    „Zurück! Zurück!“ donnerte die Stimme des Dämons wie eine Lawine über den stillen Wald. „Hinterhalt … Falle … ihr seid verraten worden!“
    „… Verrat!“
    Sie konnte Chwiuls Stimme in dem Lärm kaum verstehen und blickte gerade noch rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie Chwiul mit dem Bliell vorritt, um ihr den Weg zu ihrem Dämon abzuschneiden. Chwiul zückte sein Schwert, und aus seinem Gesicht starrte nackte, kalte Wut, doch sie wußte nicht, ob diese gegen sie selbst oder den Dämon gerichtet war. Sie rannte auf den Schlitten des Dämons zu, bemüht, ihren Bogen zu spannen, doch das Bliell legte die Entfernung mit zwei langen Sprüngen zurück. Sein Kopf schwang in ihre Richtung, die Kiefer klafften. Doch sie rutschte auf dem schlüpfrigen Boden aus und stürzte, die Kiefer des Reittieres schnappten vergeblich zu. Doch eines der ausschlagenden Beine hatte sie getroffen, und sie schlitterte über den Boden zum Fuß des Dämons.
    Der Dämon. Sie rang nach Luft, die nie ihre Lungen füllte, um seinen Namen zu rufen. Sie sah die klare Schönheit seiner Gestalt und den Alptraum des Bliell, das auf sie zustürmte, um sie beide zu töten. Sie sah es über ihr aufragen, über dem Dämon, sah Chwiul durch die Luft fliegen – entweder springend oder stürzend –, und endlich fand sie ihre Stimme wieder und schrie seinen Namen, gleichzeitig Warnung und Flehen: „Shang’ang!“
    Als das Bliell auf sie herabtrat, zuckten Blitze von der Oberfläche des Dämons und tauchten das Tier in Feuer. Der Schrei des Tieres glitt ins Unhörbare ab. T’uupieh hielt sich die Ohren zu, um den entsetzlichen Schmerz seines Schreies nicht mehr hören zu müssen. Die Augen aber schloß sie nicht: Plötzlich wie ein Blitz riß der Flammenstrahl des Dämons wieder ab, das Bliell taumelte zurück und brach zusammen. Es federte noch einmal leicht, als es aufprallte, dann blieb es tot liegen. T’uupieh ließ sich gegen den Körper des Dämons sinken und stützte sich dankbar ab, während sie endlich wieder Luft in ihre schmerzenden Lungen saugen konnte. Sie sah weg …
    Und sah Chwiul, der im Griff der Aufwinde

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