Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
die ersten Anzeichen von Leben hier auf dem Platz. Ein Schatten erschien, zögerte, um wieder in der tiefen Dunkelheit zu verschwinden, als sie ihm ein lautes „Halt!“ zurief. Sie rannte quer über das Pflaster, immer wieder rufend, doch sie fand nichts außer einer verlassenen, menschenleeren Straße, halb blockiert durch Geröll und Unrat. Sie hörte ein Geräusch, weit entfernt, ein loser Gegenstand, der zu Boden fiel, und die wieder einkehrende Stille bedrückte sie, als das Echo erstarb. Einen Moment stand sie atemlos an der Ecke, erschöpft von den plötzlichen Bewegungen und ergrimmt über alles andere. Aber jemand war hiergewesen, jemand, der ihr eine Antwort geben konnte. Wie sonst konnte Andar das Geheimnis der Sternenquelle erfahren haben? Noch immer unsicher betrat sie die Straße.
Den ganzen langen Tag über durchstreifte sie die Straßen der Stadt. Mitunter vernahm sie Geräusche, weit entfernt und undeutlich, manchmal hatte sie den Eindruck, jemand würde sie beobachten – oder war das alles nur Einbildung? Sie konnte es nicht sagen. Sie rief, und nur das Echo gab ihr eine Antwort, oder das Geräusch kleiner, rasch davonhuschender Geschöpfe, das Flattern von Flügeln in den Bäumen über ihr. Ein Gitter, aus schweren Balken und leichteren Brettern gefertigt, warf einen netzförmigen Schatten über ihre Spuren, endete in von Kletterpflanzen überwucherten Podesten auf einem Wall aus Staub und Erde sowie verbogenem Altmetall. Wände steinernen Mauerwerks, trügerisch, mit polierten Fenstern, blockierten plötzlich ihren Weg.
Mit sonderbarem Widerwillen wagte sie es nicht, eines der Gebäude zu betreten, bis es Mittag wurde. Endlich, ihr Herz schlug wie wild, schritt sie durch einen Torbogen in das dunkle Innere eines Gebäudes. Ihre Leuchtkugel verbreitete ein blasses Licht, zeigte ihr eine Wand, bedeckt mit Mosaiken, die Szenen aus dem täglichen Leben darstellten – und zwei Augen, die wie glühende Kohlen im Dunkeln glommen. Ein schnüffelndes Knurren und das hohe Wimmern eines jungen Tieres ließen sie in rasender Panik zurück ins Sonnenlicht fliehen. Verängstigt und zu Tode erschrocken wagte sie es nicht noch einmal, ein Gebäude zu betreten.
Die Schatten wurden wieder länger, eine gewisse Unsicherheit überfiel sie. Letztendlich vermochte sie nicht mehr genau zu sagen, warum sie hierhergekommen war und was sie zu finden hoffte. Ihr Körper schmerzte von der ungewohnten Anstrengung, ihr Magen knurrte vor Hunger … Hunger, nagender Hunger …
Sie spürte ein unstillbares Verlangen nach Chitta. Eine lange Zeit war vergangen; die Restmenge des Euphoriums, das die wachen Stunden zwischen den Träumen erträglicher gestaltete, war aufgebraucht, lieferte sie Emotionen aus, die zu erfahren sie sich niemals gewünscht hatte. Sie benötigte Chitta, sie brauchte es …
Sie begann den Rückweg durch die Straßen, mit raschen Schritten, ihr neues Ziel klar vor Augen, bis sie sich darüber klar wurde, daß sie nicht mehr in der Lage war zurückzufinden. Ihre plötzliche Furcht niederkämpfend, erkannte sie, daß sie eine Höhe erklimmen mußte, von wo aus sie einen bekannten Punkt finden mochte, der ihr half, den Heimweg zu finden.
Sie wählte eine Wendeltreppe, die sich in luftige Höhen emporschraubte, um das schmale Gerüst, das die Weinreben hielt, zu stützen. Flüchtig dachte sie über den Sinn dieser Treppe nach; vielleicht war sie für menschliche Füße gefertigt worden, vielleicht hatte sie aber auch gar keinen Zweck erfüllt. Aber das spielte keine Rolle, nur Chitta war wichtig … nur Chitta. Behutsam setzte sie einen Fuß auf die Treppe, prüfte sie mit ihren Händen. Die Neigung war sehr steil, aber ihre Mokassins halfen ihr, die von der Zeit angenagte Oberfläche zu erklimmen. Sie schaute nicht nach unten. Die Treppe verengte sich, feines Knirschen drang bei jedem Schritt an ihre Ohren.
Es gab ein reißendes Geräusch, und ihr Schritt ging ins Leere. Sie stolperte nach vorn, ihr eigener schriller Angstschrei widerhallte tausendfach von den Wänden, verlor sich in der Dunkelheit.
Tarawassie öffnete ihre Augen, blinzelte, Staub und verkrusteten Schmutz von ihren Lippen wischend. Sie leckte sich die Lippen, spürte einen salzigen Geschmack, sich nicht bewußt werdend, daß es der Geschmack von Blut war. Um sie herum, unter ihr lag ein Stapel Holz, etwas Scharfes drückte in ihre Seite. Sie versuchte, sich mit ihren Händen abzustützen, um aufzustehen, doch ein heftiger Schmerz
Weitere Kostenlose Bücher