Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
durchfuhr ihren Arm. Erneut brach sie zusammen, erhob dann aber ihren Kopf und war gezwungen, wieder zu blinzeln, um Staub aus ihren Augen zu vertreiben. Der Beobachter kauerte bewegungslos außerhalb ihrer Reichweite und blickte ihr besorgt in die Augen. Es war kein Mensch. Seine Augen waren grau, mit langen Pupillen, die schräg in einer Iris ohne das geringste Anzeichen von Weiß saßen. Sein Gesicht war gerade noch sanft genug geschwungen, um nicht als Schnauze zu gelten … Sein Gesicht? Sie entschied das Geschlecht instinktiv, nach Werten, die nicht zwangsläufig Gültigkeit haben mußten. Ein Eingeborener? Ihre Überraschung verdrängte alles andere aus ihren Gedanken – ihre mißliche Lage, die Inkongruenz ihrer eigenen Gegenwart hier. Sie setzte sich auf, verkrampft, dann versank die Welt in Schmerzen. Erschrocken erhob sich der Eingeborene und wich in einer einzigen geschmeidigen Bewegung zurück.
„Nein, warte!“ Sie winkte mit ihrer Hand, ihre Stimme brach.
Der Fremde hielt inne, unentschlossen, ein silberner Pelz bedeckte die Haut über seinen Schultern. Er hob einen Fuß, rieb ihn nervös am Knöchel des anderen Beines, seine Füße waren durch weiche, ausgetretene Lederschuhe, ihren eigenen nicht unähnlich, geschützt.
Sie ließ ihren Arm lose herabhängen, vor Schmerz keuchend. Sie behielt den Eingeborenen im Auge, wollte mit ihm sprechen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie erinnerte sich, daß die Eingeborenen sehr scheu waren – und sehr dumm.
Der Fremde kam langsam zurück, kauerte sich erneut nieder, noch immer außerhalb ihrer Reichweite. In seinen Augen schimmerte ein nicht erkennbares Gefühl, vielleicht Mitleid. Er erhob seinen Kopf, sein peitschenähnlicher Schwanz ringelte sich um sein Schienbein. Der Schwanz war an der Spitze nackt und grau, wie die im Schoß gefalteten Hände, während der Rest des Körpers mit silbernem Pelz bedeckt war. Er trug eine Art Lendenschurz, der um die Hüften geschlungen war, ein formloser Fetzen verwaschenen roten Stoffes, mit Stickereien verziert. Ein lederner Beutel war, zusammen mit einem Messer, an seiner Seite befestigt. Ihre Augen verweilten kurz auf dem Messer, dann glitt ihr Blick zu seinen Händen. Seine Hände waren ungewöhnlich schlank, und sie bemerkte, daß er nur drei Finger hatte, nicht vier.
Abrupt hob er eine Hand und deutete in ihre Richtung. Die Spitze einer respektablen Klaue zeigte einen elfenbeinernen Schimmer. Er erzeugte eine Reihe von Geräuschen, etwas zwischen Zwitschern und Bellen, und setzte sich daraufhin erneut zurück, wobei er sie gespannt ansah. Sie gab keine Antwort, woraufhin er das Geräusch wiederholte, dieses Mal langsamer. Dann wartete er erneut.
Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu verstehen, was er von ihr wollte. Ihr Blick wandte sich von ihm ab, sie suchte die Dunkelheit der Wände. Nur die Spitzen der Türme waren in Sonnenlicht getaucht, wie vergoldete Nägel, doch das Licht kam aus einer anderen Richtung. Lag sie etwa schon die ganze Nacht hier? Sie erschauerte. Aber irgend etwas stimmte nicht in diesen erleuchteten Schluchten … Warum waren sie verlassen? Knochen … da lagen Knochen in den Straßen. Die dunklen Augen zerbrochener Fensterscheiben blickten auf sie herab, überall lag haufenweise Unrat und Geröll herum, trennte neue Mauern von alten, Brücken, die zu Staub zerfallen waren … Das war nicht ihre Stadt, nicht die Stadt, die sie in Erinnerung hatte. Alles war anders gewesen, gestern!
Sie bedeckte ihren Mund mit den Händen, um die Schreie des Wahnsinns zurückzuhalten.
„Was … fehlt?“ fragte die Stimme des Eingeborenen.
Er beugte sich ihr entgegen, reckte seinen Hals, als versuchte er, sie durch einen Käfig hindurch zu berühren. Die Worte waren undeutlich, falsch akzentuiert und ausgesprochen – aber sie verstand ihren Sinn. Seine Augen wirkten sehr menschlich, als er sie gespannt und mitleidig betrachtete. „Geht es dir schlecht?“
„Schlecht?“ Sie senkte ihre Arme, lachte unvermittelt, hysterisch.
„Schlecht?“
Sein Gesicht erhellte sich angesichts ihrer Reaktion. „Schlecht … hier?“ Die Spitze seines Schwanzes zeigte über seine niederkauernde Gestalt. „Oder schlecht … hier?“ Der Schwanz tippte gegen seinen Kopf, ein Abbild absoluter Verzweiflung.
Tarawassie sank zurück in den Staub. „Schlecht … überall, glaube ich.“ Ihre Stimme bebte. „Wie hast du sprechen gelernt?“ Es kam ihr nicht in den Sinn zu fragen, wie er ihre Sprache
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