Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
die Kissen zurechtrückte. Ihre Mutter seufzte, ein dünnes, zerbrechliches Geräusch, als Tarawassie das graue Haar liebkoste.
„Ich werde dir etwas zu essen machen.“ Tarawassie legte soviel Optimismus, wie ihr möglich war, in ihre Worte, während sie hinüber zum Kühlschrank ging und die halbvolle Schüssel gedämpften Arbatfleischs herausnahm. Sie erschauerte in plötzlicher Betroffenheit. Sie mußte daran denken, morgen zur Ausgabestelle zu gehen und mehr zu essen holen. Sie mußte daran denken, dieses Mal durfte sie es nicht vergessen.
Sie stellte die Schüssel in den kleinen Tischofen; als der Verschluß zuschnappte, konnte sie sehen, wie es im Innern hell aufglühte. Licht … Sie bemerkte, daß es zunehmend dunkler wurde, und schaltete eine der Leuchtkugeln ein, die den Raum sofort mit sanften Silber- und Grautönen überflutete, die die kalte Nacktheit des kleinen Zimmers plötzlich weniger kahl erscheinen ließen.
Tarawassie fütterte ihre Mutter mit einem Löffel voll erwärmtem Fleisch, doch die alte Frau erschauderte und schüttelte den Kopf. „Nein, nichts mehr, Tara. Ich kann nichts essen.“ Sie lag reglos. Tarawassie streichelte ihr Gesicht, Tränen tropften auf ihre eingefallenen Wangen. Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr gegessen.
„Mutter, laß mich dir etwas Chitta bringen, damit du … damit du erneut träumen kannst.“ Ihre Stimme zitterte, sie sah hinab. „Bitte.“
„Nein.“ Ihre Mutter wandte sich ab, als schmerzte es sie plötzlich, ihre Tochter zu betrachten. Sie ließ ihren Blick durch das Fenster über das Zwielicht der Stadt schweifen. „Es verbrennt mich, es schmerzt mich zu sehr; ich kann nicht mehr träumen.“ Ihre Tränen flossen, ein Zittern durchlief sie, ihre Augen waren funkelnde Kristalle im Licht der Lampe.
„Mutter …“ Tarawassie fühlte, wie sich die Worte einen Weg durch die Barrieren ihrer Ablehnung bahnten, die unter der Wichtigkeit dessen, was sie zu sagen hatte, zerbrachen. „Mutter, etwas Seltsames ist heute geschehen. Andar ist gestorben. Er – er ging zur Sternenquelle und bat sie um seinen Tod. Und dann starb er. Ohne Schmerzen, er lächelte …“
Ihre Mutter wandte sich ihr erneut zu, suchend, fragend. „Wie ist es geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Aber er sah so friedlich aus, er, der niemals den Frieden gefunden hatte.“ Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen. „Er sagte: ‚Es gibt einen Himmel, das ist der Tod.’“
Ihre Mutter ergriff ihren Arm, von neuer Hoffnung erfüllt. „Ja, Tara, ich werde mit dir gehen, zum Schiff. Ich bin müde … so müde.“
Tarawassie verließ den Raum, um den alten Zepher zu suchen, mit dessen Hilfe sie den in Lumpen gehüllten Körper ihrer Mutter durch die dunklen Straßen zurück zum Landeplatz der Fährboote trug. Sie registrierte dankbar, daß in der Zwischenzeit jemand Andars Körper gefunden und mitgenommen hatte. Sie legte ihre Mutter quer über die drei Sitze und machte es ihr so bequem, wie es das spartanische Innere des kleinen Schiffes zuließ. Ihre Mutter lag sehr still, nur hin und wieder zuckte ein kleiner Muskel in ihrem Gesicht. Tarawassie tippte ein Signal; das Fährboot verschloß sich und hob ab. Umspült von einem Akkord stiller Vibrationen traten sie die Rückreise zum Kristallschiff an. Ihre Mutter sprach nicht mit ihr; wie Andar blickte sie hinaus auf etwas jenseits der Wahrnehmung.
Sie bat Sabowyn, ihr zu helfen, und dieser trug ihre Mutter durch die Hallen des Kristallschiffes hinauf zur wartenden Öffnung der Sternenquelle. Tarawassie folgte ihm, ihr Gang umwoben von den Wellen der Stimulation, die Mirro dem Webstuhl entlockte. Das verwirrende Spiel von Licht/Musik umgarnte ihre Sinne; ständig bemüht, die Schatten vergangener Träume von ihrem Geist fernzuhalten, die sie in die Traumwelt riefen, tat Tarawassie einen Blick in das Gesicht ihrer Mutter, dem die unwirklichen Farben einen seltsamen Hauch von Leben gaben. Ein letztes Aufflackern verborgener Emotionen erfüllte ihre Augen, als Tarawassies Mutter zum letzten Mal über das Halbrund ihrer Welt dahinblickte. Undeutlich nahm Tarawassie wahr, daß andere aus ihren Träumen erwachten und sich zu ihnen gesellten, ihnen folgten, eine in flammendes Licht gebadete Beerdigungsprozession.
Erneut stand Tarawassie an den Rändern der Sternenquelle und sah hinab in deren geisterhafte Unwirklichkeit, nun verdunkelt durch die grenzenlosen Tiefen der Nacht, erschrocken ihres eigenen Spiegelbildes gewahr werdend.
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