Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
gelernt hatte, sie dachte nicht daran, daß es auch noch andere geben könnte.
„Nicht lernen.“ Er schüttelte den silbergrauen Kopf. „Wissen. Immer wissen.“ Das silberne Fell seiner Schnauze legte sich in tiefe Falten; es schien, als bereite ihm das Formen der Worte, der Akt des Sprechens selbst, immense Schwierigkeiten. „Ich Mensch. Alle Menschen wissen.“
„Du bist kein Mensch!“ sagte sie mit schriller Stimme.
Sie erhob sich, überwand die Unbeweglichkeit ihrer Muskeln. Ihr Körper schmerzte. Sie bahnte sich einen Weg zu dem ihr am nächsten gelegenen Fenster und blickte in die dunkle, reflektierende Fläche. Lange Zeit stand sie sehr, sehr still und betrachtete die einer Vogelscheuche ähnliche Gestalt, eingehüllt in staubige, uralte Kleider, das hagere, blutige Gesicht – die Verzweiflung in den blaugrünen Augen, das einzige an ihr, das noch an den Traum erinnerte, den Tarawassie ein Leben lang geträumt hatte. Und dann, bar jeder Anmut, stürzte sie der dunklen Scheibe entgegen, glitt an der Wand hinab und lag still und ruhig im Staub.
Tarawassie öffnete ihre Augen erneut im Halbdunkel. Sie lag auf der Seite auf einem Bündel Lumpen. Mildes Sonnenlicht strömte durch eine Öffnung in der rauhen Oberfläche der Wand, und ein merkwürdiges Licht flackerte hinter ihrem Rücken, wärmte sie wie die Sonne. Sie sah sich um. Der Eingeborene saß neben einer kleinen Feuerstelle, sein silberner Pelz war goldüberflutet. Er rieb ihre Leuchtkugel systematisch mit beiden Händen. Sein Schwanz fuhr plötzlich in die Höhe und ergriff ein Stück Holz, das er ins Feuer warf. Ein Kupferkessel an einer langen Kette, die mit einem Stift an der Decke befestigt war, hing über den Flammen. Mit einem Mal nahm sie ein angenehmes Aroma wahr, den Geruch von Essen, appetitanregender und verlockender als alles, an das sie sich erinnern konnte.
„Ich bin hungrig!“ rief sie.
Der Eingeborene sah erstaunt auf. „Ich höre dich!“ Er legte die Kugel beiseite und ließ sich nach vorne auf die Knie fallen, sein Kopf nickte, in seinen Augen glänzte mehr als nur die Reflexion des Lichts.
Er nahm eine Tasse aus feinster Keramikware, tauchte sie in das Gefäß und reichte sie ihr gefüllt zu. Sie betrachtete das bezaubernde Blumenmuster auf der Oberfläche der Tasse, während sie gierig die dicke, dampfende Suppe trank. Sie ergötzte sich am herben Aroma des Gemüses, an der Reichhaltigkeit des Fleisches. Vor langer Zeit war Essen für sie eine lästige Pflicht gewesen, und die Nahrung selbst war ein geschmackloser, unappetitlicher Brei, der hinuntergeschlungen wurde, um den Hunger zu stillen. Sie hatte nie zuvor diese Art von Hunger gekannt und nie zuvor diese Befriedigung beim Essen. Die Traurigkeit, das Unbehagen und die Schwäche fielen von ihr ab, ihre Gedanken klärten sich … Sie erinnerte sich des Anblicks ihres eigenen, ausgemergelten Körpers, die Reflexion einer furchtbaren Wirklichkeit. Daß dieses Bild der Wahrheit entsprach, dessen war sie sich inzwischen sicher. Das Selbst und die Wirklichkeit, die sie bislang gekannt hatte, war nichts weiter als ein Traum gewesen – ein Traum. Aber nicht nur Phantasie. Sie erinnerte sich an den Tod ihrer Mutter, an die Sternenquelle. Waren diese ruinierte Welt und ihre eigene Erbärmlichkeit der Anblick, den ihre Mutter ohne Chitta wahrgenommen hatte? Und war es das, was Andar gesehen hatte?
Ein freudiger Aufschrei kam von dem Eingeborenen. Aufblickend sah sie die Leuchtkugel, die nun endlich in seinen Händen Licht verstrahlte. Er betrachtete sie, wobei er ein eigentümliches, zwitscherndes Geräusch ausstieß. „Möchtest du noch mehr?“
„Ja.“ Sie hielt ihm ihre Tasse entgegen. „Es schmeckt gut.“ Er tauchte das Gefäß in den Topf und gab es ihr zurück. Dann griff er erneut nach der Leuchtkugel, streichelte sie verehrend. Sie wurde sich bewußt, wie lange es gedauert hatte, bis er sie zum Leuchten brachte. Sie nippte an ihrer Suppe. „Dauert es bei dir immer so lange?“
Er blickte sie wieder an, das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. „Immer sehr schwierig für mich. Aber Sonnenball hält lange, besser als Feuer.“
„Hast du mich hierhergebracht?“
Er nickte erneut. „Ich bringen. Ich warte, daß Menschen in die Stadt kommen, um ihnen zu zeigen …“ Er erhob sich, über eine Erinnerung nachdenkend. Muskelstränge bewegten sich unter seinem silbernen Körper, als er sein Gewicht verlagerte. Er schien stärker zu sein, als es den
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