Berthold Beitz (German Edition)
ihr Leben in einen Albtraum verwandelt haben, der für so viele auch nach der Befreiung nicht enden will. Und sie hassen besonders Hildebrand, weil er als Lagerleiter eine der dominierenden Gestalten ihrer Leidensjahre war. Für den Vorsitzenden Richter ist diese seelische Ausgangslage ein Problem bei der Beweiserhebung, auch wenn er Verständnis für die Zeugen aufbringt: »Als Vertreter der Macht, die die Juden, wie sie sehr bald erkannt hatten, vernichten wollte, trat den Zeugen in den Lagern der Angeklagte gegenüber, der nach ihrer Meinung alles Unglück über sie brachte.«
Für Beitz, den Retter, stellt sich die Lage anders dar. Weit davon entfernt, für Hildebrand freundschaftliche Gefühle zu hegen – im Gespräch mit den Kripobeamten beschreibt er ihn als Wichtigtuer, der gefallsüchtig gegenüber Vorgesetzten und Bekannten sei und nur ein sehr beschränktes »geistiges Milieu« besitze –, geht es ihm doch um Gerechtigkeit. Beitz betont deshalb, er könne nur für die Zeit sprechen, in der er Hildebrand in Boryslaw erlebt habe; über dessen Verhalten vorher, nachher oder an anderen Orten wisse er nichts.
In der besagten gemeinsamen Zeit aber hat Beitz den Angeklagten nicht selbst schießen und morden sehen. Zur Erinnerung: Der janusköpfige Hildebrand hatte zwei jüdische Arbeitslager kommandiert, das in Drohobycz und das in Boryslaw. Nur im Letzteren hatte er mit Beitz zu tun – da aber hat sich Hildebrand als beeinflussbar erwiesen und Beitz im Winter 1943/44 auf dessen Bitten hin sogar Brot und Kleider, Wolljacken und Pelzstiefel für die Boryslawer Juden liefern lassen. Außerdem hatte er auf Beitz’ Betreiben zusätzliche Juden in das Arbeitslager Boryslaw aufgenommen, die Verhältnisse dort verbessert und Hilde Berger verschont. Auch viele andere, wie die jüdischen Jungen Jacov Bander und Ludwig Hiss, rettete Hildebrand auf Bitten von Beitz. Andererseits war der SS -Mann auch in Boryslaw an Mordaktionen beteiligt, offenkundig aber nicht in Anwesenheit von Beitz. Häufig hat er dort die Morde von seinen Schergen erledigen lassen. Beitz spricht nun vor Gericht über das, was er gesehen und erlebt hat, und es gibt Zeugen, die seine Version bestätigen. Der Zeuge Wilhelm Dornstrauch sagt dagegen bitter und nicht ohne Sarkasmus: »Man hat nichts Schlechtes über Hildebrand gehört – bis auf die Aktionen, die stattfanden.«
In Drohobycz war Hildebrand mit Peitsche und gezogener Pistole vor den angetretenen Juden erschienen und hatte die Kinder von den Eltern getrennt – zu dem Zweck, die Kleinen zu ermorden. Dornstrauch hatte seine Frau und seine fünfjährige Tochter verloren, SS -Männer erschossen die beiden mit 170 anderen im Wald von Bronica. Ob Hildebrand persönlich zu den Todesschützen gehörte, ließ sich nicht mehr klären.
In Boryslaw aber wusste Beitz Hildebrands Schwächen für sich und seine Schutzbefohlenen zu nutzen. Er nimmt Hildebrand nun nicht generell in Schutz und macht den Mann nicht besser, als er war. Er sagt nur: In Boryslaw habe ich persönlich nicht gesehen, dass er Menschen misshandelt oder ermordet hat. Im Gegenteil: Über Hildebrand sei es mehrfach möglich gewesen, das Los der dort internierten Juden zu verbessern.
Friedrich Hildebrand wird schließlich im Mai 1953 wegen Beihilfe zum Mord und wegen Totschlags zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, jeweils für Taten außerhalb von Boryslaw. Bemerkenswert am Bremer Verfahren sind die Sorgfalt und der Einsatz der Justiz bei der Aufklärung von deutschen Morden an Juden – ganz entgegen der allgemeinen Tendenz in den frühen fünfziger Jahren, als das Interesse an der Aufklärung von NS -Verbrechen spürbar nachlässt. Die Zentrale Ermittlungsstelle der Staatsanwaltschaften in Ludwigsburg zur Aufklärung von Naziverbrechen wird überhaupt erst 1958 gegründet. Erst der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und die Entführung und Aburteilung Adolf Eichmanns in Jerusalem 1960/61 führen zu einer neuen Verfahrenswelle gegen Judenmörder und Kriegsverbrecher. Das Verfahren gegen Hildebrand zeigt auch, wie schwer sich die deutsche Justiz mit dem Vorgehen gegen Naziverbrecher tut, selbst wenn sie einmal den Mut und den Willen dazu aufbringt. Der Holocaust, das schiere Ausmaß der Verbrechen unter deutscher Besatzung, der Massenmord in Auschwitz sowie das exzessive Wüten der SS -Einsatzgruppen in Osteuropa – mit derlei »Organisationsverbrechen«, also massenhaften Straftaten von Staats wegen, haben Ankläger und Richter
Weitere Kostenlose Bücher