Berthold Beitz (German Edition)
Revolverschüsse taugen nichts.«
Registrierung, Zwangsarbeit, Ausplünderung, Ghettoisierung, schließlich Massenmord: Unbarmherzig steigern die Besatzer den Terror gegen die Juden, eine ständige Eskalation, welche die Opfer in Atem hält. Im März 1942 werden die ersten Boryslawer Juden in eine Art Ghetto getrieben, das allerdings in der weitläufigen, von Ölanlagen durchzogenen Stadt noch kein abgesperrter Bezirk ist. Die Lebensmittelrationen sind minimal, Zwangsarbeiten für Juden verpflichtend. Sie leben nun in Angst, am helllichten Tag fortgebracht und erschossen zu werden. Ein »Judenrat« muss Arbeitskräfte stellen und die Wertsachen der Juden abliefern; er spielt in Boryslaw eine so tragische Rolle wie überall anders auch, will retten, was nicht zu retten ist; doch wer kann das vorher wissen?
Der junge Öldirektor Beitz hat die Schreckensbilder aus der Panskastraße nicht vergessen. Sehr bald muss er nun erfahren, dass dies nur der Anfang war und nicht die Ausnahme. Er beschließt, seine Arbeiter vor den Greiftrupps der Verfolger zu schützen – durch einen Trick, der mancherorts in der Rüstungsindustrie und nun auch bei der Karpathen-Öl benutzt wird: Beitz richtet ein eigenes Firmenlager ein, dort leben die Juden mit ihren Angehörigen in relativer Sicherheit. Ihm gelingt sogar das Kunststück, das Lager gelegentlich von der Polizei bewachen zu lassen, damit nicht die Ukrainer oder andere Einheiten eindringen: Jede Aktion gegen die Juden der Boryslawer Ölindustrie, so sein stets wiederholtes Argument, bringe die Produktion ins Stocken und gefährde die Treibstoffversorgung der Wehrmacht.
So wird das Lager »Mraschnitza« zu einer Fluchtinsel. In dem weitläufigen Häuser- und Fabrikkomplex leben mehr als 1400 Juden, dazu viele Angehörige und Menschen, die sich hier verbergen. Bekannt ist das »Weiße Haus«, wie die Arbeiter sagen, drei Wohngebäude, in denen Beitz Fachkräfte mit ihren Frauen und Kindern unterbringt. Außer den Ölarbeitern sind noch weitere Juden in der »Mraschnitza«, die zu den »Arbeitskommandos« namens »Städtische Werkstätten« und »Sägewerk« gehören. Letzteres untersteht nicht der Ölgesellschaft, sondern dem deutschen Privatunternehmer Lackner, der seine etwa hundert Leute ebenfalls gut behandelt und vor der SS zu bewahren versucht. Der Buchhalter Jozef Hirsch aus Beitz’ Büro erinnert sich später: »Er [Berthold Beitz; J. K.] sorgte fuer die Juden im Lager mit Verpflegung und besonders gruendete er ein spezielles Heim … das ›weiße Haus‹. In diesem Hause wohnten Familien mit Kindern … Die Lagerinsassen fanden in Beitz den Schuetzer und wandten sich an ihn mit saemtlichen Bitten, welchen er nachgekommen ist. Wenn irgendein Familienmitglied von der Gestapo geschnappt wurde, bemuehte sich Beitz immer, den freizubekommen.«
Die Brutalität der Deutschen weckt von Beginn an die schlimmsten Befürchtungen. Immer wieder werden Geiseln, »Arbeitsverweigerer« und zufällige Opfer erschossen. Jurek Rotenberg, Sohn der Pianistin Anna, sieht eine Welt aus Bösartigkeit und Gewalt. Der Junge läuft ohne die vorgeschriebene Armbinde mit dem gelben Stern durch die Straßen, aus Trotz, aber auch im Vertrauen darauf, dass ihn sein »arisches« Aussehen schützen werde. Doch polnische und ukrainische Kinder erkennen ihn. Nur wenige Wochen zuvor haben sie neben ihm in der Schule gesessen, jetzt umringen sie ihn, stoßen ihn, zeigen mit dem Finger auf ihn und schreien »Jude! Jude! Jude!«. Wie Schakale kommen sie ihm vor, von einem Hass getrieben, der ihm völlig rätselhaft ist. Doch er hat Glück. Ausgerechnet ein Soldat aus der berüchtigten Reiterstaffel der deutschen Ordnungspolizei kommt vorbei und jagt die Horde mit Fußtritten davon. Er gibt Jurek eine Ohrfeige und sagt: »Verschwinde!«
Aber solches Glück, aus einer Laune der Herrenmenschen erwachsen, ist rar in Boryslaw. Schon 1941 müssen Mutter und Sohn Rotenberg ihre Wohnung verlassen. Immerhin hat Anna eine polnische Freundin, Michalina Krystyna Tympalska. Und da ist Krystynas engste Vertraute, Danuta Bohosiewicz, eine Sängerin, mit der Anna oft musiziert hat und die ihr nun hilft, wo sie kann. Jureks Vater war die rechte Hand von Krystynas Vater im Ölgeschäft, bei der Firma »Petrolea«. Sie lebt in einem großen Haus am Stadtrand, wo ein leitender Angestellter der Karpathen-Öl, ein Mann deutscher Abkunft namens Theodorowicz, mit seiner alten Wiener Tante wohnt. Dort bringt Krystyna Tympalska,
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