Berthold Beitz (German Edition)
mit Wissen des Hausbesitzers, die beiden unter; sie beziehen ein kleines, von den anderen Wohnräumen abgetrenntes Zimmer. Krystyna und Danuta nehmen niemals Geld für ihre Hilfe.
Dem Jungen erscheint es, als seien die beiden Frauen weibliche Ausgaben von Dr. Jekyll und Mr Hyde: Helfer am Tage, scheinbare Freunde der Besatzer bei Nacht. Das Haus der Tympalska wird nämlich bald zum Treffpunkt deutscher Offiziere, leider auch solcher aus SS , Gestapo und Schutzpolizei. Die jungen Damen singen für die Besatzer, die dann schnaps- und heimwehselig einfallen: »Wien, Wien, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein; dort, wo die alten Häuser stehn, da, wo die schönen Mädchen gehn …« Zu Danutas Bewunderern gehört Fritz Dengg, den Jurek eines Abends bei ihr sieht, ein großer, hochgewachsener Mann in tadellos sitzender Uniform und blankgeputzten Schuhen, der die Sängerin an jenem Abend mit glitzernden Augen mustert. Dengg, Offizier der Gestapo aus Drohobycz, ist auch mit Beitz bekannt und hält Kontakte zur Karpathen-Öl. »Dengg war in sie verliebt«, sagt Rotenberg heute. Als Krystyna und Danuta wieder einen Liederabend geben und Anna Rotenberg am Klavier spielt, serviert Jurek Getränke, ein junger Jude mitten im Kreis der Mörder, was diese natürlich nicht wissen. Die beiden Frauen haben gehofft, so jeden Verdacht zerstreuen zu können. Doch es soll nicht sein.
Vor- und Rückseite eines »R«-Abzeichens. Das »R« stand für »Rüstungsarbeiter« bzw. »Raffineriearbeiter«.
»Wer ist eigentlich die Klavierspielerin?«, fragt Dengg plötzlich. Nur eine Freundin, versichert Krystyna, die auf diese Wendung der Dinge nicht gefasst ist. Jüdin? Nein, nein, versichert die Polin, doch der Untersturmführer lässt nicht locker, vielleicht will er die Gastgeberin durch seine Macht beeindrucken: »Sie hat so jüdische Augen. Und wer ist der Bursche da?« Danuta fällt lachend ein: »Aber das sind doch Armenier, keine Juden!« Dengg zögert. Die Wiener Tante aus Danutas Haus rettet die Lage. Sie verwickelt den Deutschen in ein Gespräch, und Danuta flüstert Anna Rotenberg zu: »Verschwindet, schnell.« Mutter und Sohn huschen aus dem Haus. Danach müssen sie vorsichtiger sein. Bei einem weiteren Besuch öffnen sie die Tür, es ist dunkel, da leuchtet die Glut einer Zigarette auf, und Jurek sieht im Schatten die Umrisse von Soldaten. Einer ruft: »Wer ist da?« Da seien sie, erinnert sich Jurek Rotenberg heute, »wie gehetzte Tiere durch die Felder davongelaufen«.
Am Ende ist es Beitz, der die Rotenbergs rettet – ohne sie überhaupt zu kennen. Gustaw Russ, ein bei der Karpathen-Öl beschäftigter jüdischer Fotograf und Dolmetscher, will sich für sie einsetzen, unterstützt von einem weiteren polnischen Karpathen-Mitarbeiter. Die beiden versprechen, den Direktor um Arbeitserlaubnisse für sie zu bitten, der einzige Weg zu überleben. Und tatsächlich, nach wenigen Tagen bekommen sie die nötigen Kennzeichen und Dokumente. Selbst Jurek, eigentlich noch ein Kind, hat nun, 1942, einen Wimpel aus hartem Fahnentuch, mit einem aufgedruckten Reichsadler und einem »R« versehen. In Verbindung mit dem ebenfalls gelieferten Arbeitsausweis gilt der Junge nun als »Rüstungsarbeiter«, beschäftigt in der kriegswichtigen Industrie.
Wer keine solche Beschäftigung nachweisen kann, der ist gezwungen, sich zu verstecken – in einer so kleinen Stadt mit so vielen potenziellen Denunzianten ein äußerst gefährliches, oft unmögliches Unterfangen. Juden, die zu Hause bleiben, müssen damit rechnen, dass jederzeit ein SS -Kommando oder eine Horde ukrainischer Handlanger auftaucht und sie in den Wald von Bronica oder zu einer anderen Hinrichtungsstätte mitnimmt. Sonst bleibt nur der Fluchtweg durch Wälder und Berge zur fünfzig Kilometer entfernten ungarischen Grenze. Das Land ist zwar mit den Deutschen verbündet, beteiligt sich aber bis zum faschistischen Putsch 1944 nicht an der Judenverfolgung. Doch dieser Weg ist wegen der vielen deutschen Patrouillen riskant; und oft schicken Ungarns Grenzer jüdische Flüchtlinge umgehend zurück.
Der damals 13-jährige Salek Linhard, Sohn des Kürschnermeisters Jitzhak Linhard, erinnert sich: »Wir lebten zu acht mit Verwandten in unserer winzigen Wohnung. Wir hatten kein Geld mehr, konnten nichts zu essen kaufen und wagten uns nicht auf die Straße. Und wir wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Es war grauenvoll, und wir sahen keine Zukunft mehr.« Die Wehrmacht
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