Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
weiß er auch nicht.«
Yve versuchte, sich einen Reim auf Crevis Aussage zu machen. Wie konnte das möglich sein? Angestrengt versetzte sie sich noch einmal in die Situation auf dem Zirkelplatz. Sie war gemeinsam mit Crevi auf den Monolithen zugelaufen, bis sie getrennt worden waren. Der Krieger hatte sie angegriffen und die Welt war vor ihren Augen verschwommen. Aber Augenblick , fiel es ihr wieder ein. Da war noch etwas. Wie durch einen Fiebertraum hindurch hatte sie während der fürchterlichen Schmerzen eine Gestalt über sich stehen sehen. Sie konnte dieser Person kein Gesicht zu ordnen, wusste nur noch, dass dieser jemand, weder die Schöpferin noch Jayden gewesen war.
»Ich weiß es noch«, teilte sie Crevi aufgeregt mit. »Ich habe jemanden gesehen, der, als ich am Boden lag, neben mir gestanden hat. Mehr weiß ich allerdings nicht mehr.«
»Wirklich?«
»Es erschien mir mehr wie eine Einbildung. Fast, als hätte ein Engel neben mir gestanden, der über mich wacht. Oder aber…« Sie schüttelte sich und ihr wurde eiskalt. »Der Tod, der mich mit sich nehmen wollte.«
Crevi konnte ihre Nervosität kaum noch im Zaum halten und Yve bemerkte, wie ihre Freundin, ganz wie sie es zutun pflegte, sobald sie nervös wurde, an ihrem Ring herumspielte.
»Was ist?«
»Er ist kein Engel, Yve. Und auch nicht der Tod. So viel hat er mir anvertraut, aber er verfolgt uns«, hauchte Crevi kaum vernehmlich.
»Er verfolgt uns?«
»Er wacht über uns. Auch jetzt ist er irgendwo hier in der Nähe.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Sie bekam nur ein Schulternzucken als Antwort.
»Sag’s mir, Crevi.« Wie nebenbei suchte Yve die Umgebung ab. Sie erfasste jede dunkle Lücke zwischen den Bäumen und konnte doch niemanden entdecken. Sie schaute nach links, nach rechts. Huschte über die Baumkronen über ihnen, fand jedoch nichts als ein Eichhörnchen, das sie von seinem Plätzchen aus neugierig musterte.
»Ich weiß es nicht.«
»Und woher weißt du, dass er uns folgt?«
»Er hat es mir erzählt. Gestern hat er mich während meiner Wachschicht aufgesucht. Wir haben uns unterhalten.« Sie musste Crevi wohl völlig entsetzt angestarrt haben, denn diese machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Er war eigentlich ziemlich nett.«
»Crevi!«, konnte Yve sich nicht länger zurückhalten. »Was ist, wenn der Kerl irgendein Irrer ist?«
»Ist er nicht. Er sieht ein bisschen schräg aus, aber sonst ist er ganz normal«, verteidigte die junge Frau ihren nächtlichen Besucher. »Meistens zumindest.«
»Wie sah er denn aus?«, hakte Yve nach. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie hatte einfach ein ungutes Gefühl bei der Sache.
»Na ja…«
Sie setzte eine viel sagende Miene auf.
»Gut.«
»Gut?«
»Meiner Meinung nach sah er gut aus.«
»Crevi, du wirst ja ganz rot«, stellte Yve überrascht fest.
Verlegen versuchte sie, hinter dem Vorhang ihrer blonden Locken zu verschwinden.
»Könntest du vielleicht etwas genauer werden?« Etwas versöhnlicher fügte Yve hinzu: »Bis jetzt kann ich mir kein Bild von ihm machen.«
»Er war groß, hatte wilde braune Haare, die ihm in alle Richtungen vom Kopf abstanden, und er trug einen weiten alten Flickenmantel, der fast schon antik zu nennen wäre. Ansonsten hatte er keine Auffälligkeiten.«
»Ich glaube nicht, dass er mein Typ gewesen wäre. Aber das tut jetzt nicht zur Sache. Kennst du seinen Namen?«
»Adrian.«
Yve musste an die Geschichten über abgöttisch schöne Männer und Frauen denken, die des Nachts ihre Opfer verführten und dann deren Blut tranken. Es waren jene Geschichten, die kleine Kinder das Fürchten lehren sollten. Sie hatte viele von diesen Geschichten gehört, oft hatte man sie sich in Ral’is Dosht erzählt und einige der Erzähler hatten doch tatsächlich behauptet, sie selbst hätten eine der Nachtkreaturen zu Gesicht bekommen. »Hast du schon mal an Blutsauger gedacht?«, fragte sie Crevi unumwunden.
»Was? Nein, natürlich nicht!«, entrüstete sich die Angesprochene. »Wie kommst du bloß auf solche Ideen?«
Yve verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust, da die andere sich über sie lustig zu machen schien. »Ich wollte nur anmerken, dass deine Sicherheit eventuell gefährdet ist. – Wenn er noch mal kommen sollte, weckst du mich, ja?«
»Ich weiß nicht, ob er das wollen würde.«
»Oh, ich sehe schon. Er hat dich bereits unter seine Kontrolle gebracht«, warnte Yve gespielt vorwurfsvoll.
»Vielleicht kommt er die nächste Nacht
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