Besessene
Ausstellungsgebäude ein Zug vorbeigesaust.
Das Mädchen mit den grünen Augen.
Ihre Stimme hallte in dem gesamten Ausstellungssaal wider, prallte an der gewölbten Decke ab und bohrte sich in mein Herz hinein.
Kapitel 6
M erlin konnte mich gerade noch festhalten, sonst wären mir vielleicht die Beine weggesackt. Ich holte tief Luft, lächelte mit finsterer Miene und tat so, als hätte ich nur Spaß gemacht; dabei ärgerte ich mich, dass dieses Mädchen eine solche Wirkung auf mich hatte.
Ich streckte ihr eine Hand entgegen. »Hi, wir sind uns ja schon mal begegnet.«
Sie wandte sich zu mir, machte große Augen und sagte: »Ach ja?«
»Ja, auf dem Kunsthandwerkermarkt. Der Anhänger … weißt du nicht mehr?«
»Na klar,
die
Katy!«
»Allerdings hast du neulich noch ein wenig anders ausgesehen«, konnte ich mir nicht verkneifen zu betonen.
»Ach wirklich?«
Sie schenkte mir ein warmes Lächeln, aber aus irgendeinem Grund löste es kein gutes Gefühl bei mir aus. »Deine Haare hatten eine ganz andere Farbe, da bin ich mir sicher.«
Der dunkle Haarton hatte ihre Haut auf nicht sehr attraktive Weise weiß erscheinen lassen, während sie jetzt geradezu entnervend frisch – Typ Bauernmädchen – wirkte. Verglichen damit sah meine Haut matt und völlig leblosaus. Gleiches galt auch für den Mantel; ihrer betonte jede Kurve ihres Körpers und ließ den meinen altbacken und schlecht sitzend aussehen.
»Das ist meine natürliche Farbe«, antwortete sie, fuhr sich durchs Haar und runzelte bescheiden die Stirn. »Ich hatte keine Lust mehr, es andauernd zu färben, aber ich mag es auch nicht, wenn man immer gleich aussieht.«
»Veränderungen sind okay«, bemerkte ich gereizt, »ich persönlich bleibe allerdings gern bei meinem eigenen originellen Stil.«
»Nichts ist durch und durch originell«, schlug sie zurück. »Mode, Literatur, Kunst … alles hat es schon einmal gegeben. Wenn du dir meinen Schaukasten da drüben ansiehst, kann ich dir genau sagen, welche Künstler und Designer mich beeinflusst haben.«
Ich schaffte es nicht, meinen Ärger zu verbergen. »Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob man sich beeinflussen lässt oder jemanden vollständig imitiert.«
»Aber Katy«, sagte sie mit süßlicher Stimme, »die Imitation ist doch die ehrlichste Form der Bewunderung.«
Dieses Pingpongspiel zwischen uns begann mich zu ermüden. Ich musste dringend weg von ihr.
»Entschuldige, aber Merlin und ich wollen noch woandershin. Es war nett, dich wiederzusehen … Genevieve.«
Ich machte mir nicht mal mehr die Mühe, auf ihre Schlussbemerkung zu reagieren, die geradezu unheilvoll klang. »Ich hoffe, wir sehen uns bald öfter, Katy.«
Merlin und ich gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher, doch es war ein seltsames, unbehagliches Schweigen.
»Du bist so still«, bemerkte er.
»Ich bin nur müde.«
Er küsste mich auf den Kopf. »Hoffentlich nicht von meiner Anwesenheit?«
»Natürlich nicht.«
Wir setzten uns in eine kleine Hütte im Stadtpark. Merlins Haare sahen im peitschenden Regen noch besser aus als sonst, er selbst wie ein windzerzauster Leonardo DiCaprio, aber meine Haare ähnelten allmählich dem Brombeerbusch vor uns. Ich versuchte, sie mit den Fingern zu bändigen, scheiterte jedoch kläglich. Auf seinen Jeans waren Farbspritzer und die Risse darin nicht künstlich. Er sah aus wie ein Bohèmekünstler aus einem anderen Jahrhundert und jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, erschien mir – wie in einem fürchterlichen Albtraum – Genevieve, die auf seinem zerschlissenen Sofa lag und sich darin aalte, von ihm gemalt zu werden.
Dich malt er,
versuchte ich mir zu vergegenwärtigen.
Ich hatte den Kopf auf Merlins Schulter gelegt und überlegte, wie ich das gefürchtete Thema anschneiden sollte. Es gab keine andere Möglichkeit, als direkt ins kalte Wasser zu springen. »Und … woher kennt deine Mutter Genevieve?«
»Das ist eine wirklich tragische Geschichte«, fing er leise an zu erzählen und ich musste mir auf die Zunge beißen, um keine sarkastische Bemerkung von mir zu geben. »Sie war erst sieben Jahre alt, da kamen ihre Eltern am Weihnachtsabend bei einem Autounfall ums Leben. Mit ihren Adoptiveltern hat sie sich wohl nicht verstanden und deshalb wurde sie seit dieser Zeit von einem Kinderheim zum anderen geschoben.«
»Wie furchtbar«, murmelte ich, weil Merlin eine Pause machte, als erwarte er eine Reaktion von mir. Seine Stimme klang jetzt
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