Besessene
Mir kam es vor, als rührten wir uns eine Ewigkeit lang nicht.
»Wäre es nicht schön, mal nur für uns zu sein?«, flüsterte er. »Irgendwo weit weg von hier?«
»Aber wo?«, sagte ich mit einem Seufzer.
»Wir könnten auf irgendeinem Campingplatz ein Zelt aufschlagen.«
»Das wäre wunderbar«, hauchte ich, überzeugt davon, dass er es nicht wirklich ernst meinte.
»Es könnte aber kalt werden.«
»Ich liebe die Kälte«, sagte ich und das war die Wahrheit. Ich war immer glücklich, wenn die Tage kürzer wurden und der Sommer dem Ende zuging.
»Was würdest du denn deiner Mutter sagen?«
Ich rückte von ihm ab. »Du meinst es also ernst?«
Merlin lächelte strahlend. »Warum denn nicht? Bei mir zu Hause kannst du dich nicht entspannen und dein Zuhause ist ja wohl tabu …«
Ich wollte ihm das volle Ausmaß von Mums Problemen nicht erzählen, da ich mir nicht sicher war, ob er Verständnis dafür haben würde. »Meine Mutter … klammert ein bisschen«, sagte ich schließlich. »Das könnte schwierig werden. Sie mag es ja nicht mal, wenn ich zu Pyjamapartys gehe und du … du bist ein Typ.«
»Das ist dir also aufgefallen«, frotzelte er. »Nur für eine Nacht, Katy. Ich würde so gern mit dir zusammen sehen, wie die Sonne aufgeht … die Sterne zählen … und mit dir aufwachen.«
Ich versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken, und lächelte zuversichtlich. »Nichts ist unmöglich. Ich denke mal darüber nach und lasse mir was einfallen.«
»Aber willst du es denn auch wirklich?«, sagte er drängend.
»Natürlich will ich es.«
Es war ganz untypisch für mich, mich auf eine so riskante Sache einzulassen, doch ich war entschlossen, Merlin einmal ganz für mich allein zu haben, um seine ureigensten Gedanken erspüren zu können. Selbst wenn wir zusammen waren, fühlte ich mich manchmal ausgeschlossen und ich wusste, dass er sich dann an einen Ort in seinem Kopf zurückzog, den ich nicht mit ihm teilen konnte. Vielleicht würden wir uns einander mehr annähern, wenn wir einmal alleine zusammen waren, weit fort von allem Vertrauten. Wir gingen im Schneckentempo nach Hause, um jede Minute unseres Zusammenseins auszukosten, und ich bemühte mich, alle Erinnerungen an Genevieve auszulöschen. Wir küssten uns an der gleichen Stelle neben meinem Haus wie immer, aber sosehr ich mir auch einreden mochte, dass sich nichts verändert hatte … es entsprach doch nicht der Wahrheit. Merlin roch immer noch nach ihr.
Kapitel 7
M um lag nicht mehr im Bett, als ich nach Hause kam, und hatte sogar etwas Farbe im Gesicht. Auch unser Haus strahlte plötzlich eine andere Atmosphäre aus – wärmer und beinahe gemütlich zur Abwechslung. Ich sah, dass sie sich Mühe gegeben hatte, und hätte mich eigentlich darüber freuen sollen, aber der Gedanke an Genevieve verdarb alles. Mum sah mich erwartungsvoll an.
»Es tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte, Katy. Wie ist es denn gelaufen?«
»Gut«, log ich und erfand eine Ausrede, um nach oben gehen zu können.
Ich verzog mich in mein Zimmer, fest entschlossen, nicht zu heulen, und starrte in den Spiegel: Ich strich mein Haar glatt und zog die Wangen ein, um Genevieve zu ähneln. Doch wie immer sah ich entsetzlich normal aus. Hektisch riss ich meinen Schrank auf, streifte mir die Kleider vom Leib und zog wahllos T-Shirts , Kleider, Pullover und Hemden von den Bügeln. Ein Kleidungsstück nach dem anderen probierte ich an, kombinierte, übte verschiedenste Blicke und Posen ein. Es war lächerlich, aber ich versuchte tatsächlich, Genevieves Laisser-faire-Haltung, ihr gelangweiltes Lächeln und ihre lässige Art, sich zu bewegen, anzunehmen,weil mir soeben klar geworden war, dass mein Stil nicht im Entferntesten ausgefallen oder anti-mainstream war, sondern eher dem einer Pennerin glich. Verzweifelt schloss ich die Augen und wollte Genevieve aus meinem Kopf bannen, doch sie blieb dort haften, als wäre sie ein Echo meiner Netzhaut. Ich putzte mir die Nase, kämmte mich und ging wieder nach unten zu Mum. Sie war so selten gut drauf, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich sie allein gelassen hatte, und ich versuchte, so zu tun, als ob alles in bester Ordnung wäre.
»Und wie ist es heute wirklich gelaufen?«, fragte sie ganz ruhig. Mein Kummer muss direkt unter der Oberfläche gebrodelt haben, denn er entlud sich auf der Stelle, ohne dass ich darüber nachdachte. »Die Ausstellung war super, aber da ist ein neues Mädchen im College …
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