Besessene
noch betroffener. »Schließlich kam es so weit, dass sie eine Zeit lang draußen im Freien schlafen musste, bis eine von Mums Freundinnen eingesprungen ist und sie bei sich in Pflege genommen hat.«
»Und wo wohnen die?«
»In einer umgebauten Scheune, nicht weit von uns … in der Nähe der Ställe.«
»Hm … kenne ich. Ist Genevieve nicht ein bisschen zu alt für eine Pflegefamilie?«
»Ja, sie ist schon sechzehn«, erwiderte Merlin, »aber es soll ihr die Übergangsphase erleichtern.«
»Und so hast du sie kennengelernt?«
»Ja, meine Mutter hat sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, um für sie einen Collegeplatz zu bekommen, weil sie nicht alle notwendigen Prüfungen nachweisen konnte.«
Ich setzte mich aufrecht hin. »Sie hat ihr geholfen, einen Collegeplatz zu bekommen? Wo wir so hart dafür arbeiten und obendrein noch gute Noten haben mussten!«
Merlins scharfer Tonfall überraschte mich. »Es ist ja nicht Genevieves Schuld, dass sie nie ein Zuhause gehabt hat. Sie konnte keine Schule länger als ein paar Wochen besuchen, deshalb hat meine Mutter sie dazu angeregt, eine Mappe zusammenzustellen und sie dem Collegevorstand vorzulegen. Und der hat übereinstimmend beschlossen, dass sie einen Platz im College verdient hat. Hast du ihre Arbeiten gesehen?«
Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es schon wehtat. »Nein, aber ich bin sicher, sie sind super.«
»Das Eigenartige ist … sie ist ein richtiges Multitalent … in Kunst, Modedesign, Textilien und Schmuck. Die meisten Leute kriegen ja nur eine Sache hin.«
»Schön für sie.«
»Ihre Arbeiten sind auch schon richtig durchgestaltet und keine tastenden Versuche. Und trotzdem … sie musste ihre Entwürfe auf der Straße verkaufen, wenn sie am gleichen Tag noch was essen wollte.«
Ich reagierte wie ein Roboter. »Verstehe.«
»Wenn man das alles über Genevieve weiß, dann wird einem erst klar, wie gut wir es haben.«
»Allerdings!«
»Erzähl das aber bitte nicht weiter, Katy. Sie möchte sicher nicht, dass das jeder weiß.«
»Nein, auf keinen Fall.«
Das Dach der Hütte hatte ein Loch und der Regen tropfte mir auf den Kopf und rann mir die Nase hinunter. Merlin merkte gar nicht, wie kurz angebunden meine Antworten ausfielen, so begeistert ließ er sich immer noch über Genevieve aus.
Er machte eine kurze Pause und ich zog die Nase hoch. »Du hast sie vorher nie erwähnt.«
»Mum hat sie ja auch erst kürzlich zu uns mitgebracht.«
»Letzte Woche, meinst du?«
Merlin warf mir einen seltsamen Blick zu. »Ja … Samstag, glaube ich.«
Was bedeutete, dass sie sich im Haus aufgehalten hatte, während er mich malte, und es gut möglich war, dass ich sie durch die Bäume gesehen hatte.
»Ist das denn wichtig?«
Ich wedelte lässig mit der Hand durch die Luft. »Ich war nur neugierig, wie lange sie schon zu euch kommt.«
»Noch nicht sehr lange. Aber ihr beide habt viel gemeinsam. Ich glaube, dass ihr Freundinnen werden könntet – enge Freundinnen sogar.«
Es war nicht seine Schuld, doch selbst Merlin schien von ihr verseucht zu sein. So kurze Zeit nur hatte er mir gehört, nur mir allein. Und schon spürte ich, wie er sich von mir davonstahl. Ich sah mich um. Kein Mensch war außer uns zu sehen, nicht mal ein einsamer Hundespaziergänger, der sich tapfer dem Regen ausgesetzt hätte. Ich vergrub mein Gesicht in Merlins Hals und ließ meine Zunge nach oben bis zu seinem Kinn gleiten. Seine Haut schmeckte nach Salz und einem Hauch von Schweiß. Ich ließ meine Beine über seine gleiten, bis ich auf seinem Schoß saß, und begann ihn zu küssen.
»Katy … so warst du neulich aber nicht.«
Ich lachte. »Vielleicht fühle ich mich draußen … ähm …«
»Wilder«, ergänzte er, hielt mich auf Armeslänge von sich und betrachtete verblüfft mein Gesicht. »Ich hätte nie geglaubt, eines Tages bei lebendigem Leib auf einer Parkbank verschlungen zu werden.«
Merlin hielt meinen Kopf fest umklammert, während ich ihn in dem Versuch, auch noch die letzte Spur von Genevieve auszulöschen, weiter küsste. Ich knöpfte die ersten drei Knöpfe seines Hemds auf, lehnte mich mit der Wange an seine Brust und lauschte seinem Herzen.
»Es schlägt wie wild, Katy, hörst du’s?«
»Meins dreht auch gerade durch.«
Zögernd schob sich Merlins Hand unter mein T-Shirt ,wie auf der Hut vor einer Reaktion von mir, bewegte sich langsam über meinen Bauch nach oben, bis sie sich schließlich auf mein Herz presste.
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