Besessene
eigentlich zu ihr gesagt?«, fragte Hannah sanft.
Ich ging auf und ab, wobei meine Schuhe ein unheimliches dumpfes Geräusch machten. »Ich habe mich etwas … über ihr Aussehen geärgert«, gab ich schließlich zu. »Ist euch nicht aufgefallen, wie sehr sie sich verändert hat?«
Hannah zuckte mit den Schultern. »Irgendwie schon, ja. Aber wenn auch. Jeder verändert doch sein Äußeres von Zeit zu Zeit mal und …«
»Sie trägt
meinen
Mantel«, unterbrach ich sie. »Den Mantel,den ich selbst entworfen und mit der Hand genäht und bestickt habe.«
»Katy«, antwortete Nat bedächtig, »Genevieve ist doch erst vor ein paar Wochen in die Stadt gekommen. Sie kann deinen Mantel in so kurzer Zeit gar nicht kopiert haben.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen, weil Nat recht hatte. Die ganzen Sommerferien hatte ich dazu gebraucht, um den Mantel zu nähen. Niemand hätte ihn so schnell nachnähen können. Ich sah von einem Gesicht zum andern und fühlte mich beschämt. Ich musste den beiden beweisen, dass ich kein Problem mit Genevieve hatte, und versuchte, ruhig zu atmen und mich unbekümmert und vernünftig zu geben.
»Hört zu, ich werde euch beweisen, dass ich nichts gegen Genevieve habe. Sie soll ruhig mit uns zum Lunch gehen und dann zeige ich ihr, dass sie hier willkommen ist.«
Hannahs Gesicht strahlte vor Erleichterung. »Du wirst sowieso deine Meinung ändern, wenn du dich erst mal länger mit ihr unterhältst. Sie ist wirklich okay.«
»Wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat«, fügte Hannah teilnahmsvoll hinzu.
Da hatte Genevieve den beiden also ebenfalls ihre Lebensgeschichte erzählt. Weit davon entfernt, ihre tragische Vergangenheit als Geheimnis zu hüten, wollte sie offensichtlich, dass alle davon erfuhren. Ich bemühte mich um einen ganz normalen Tonfall, aber mein Mund fühlte sich an, als steckten in ihm saure Zitronen. »Ich kenne die herzergreifende Geschichte von Annie, dem Waisenkind, bereits … die hat sie Merlin und mittlerweile sicher auch dem ganzen College schon erzählt.«
Ich erntete erstauntes Schweigen mit meiner Bemerkung. Nat gelang es schließlich mit krächzender Stimme hervorzubringen: »Katy … du klingst so gehässig.«
Ich wurde rot. »Es tut mir leid, ich will wirklich nicht gemein sein, aber … aber sie scheint das Schlimmste aus mir hervorzulocken.«
Das war ein fürchterliches Eingeständnis und ich war durch und durch beschämt – zum zweiten Mal schon heute. Ich lächelte kraftlos. »Noch mal, es tut mir leid. Lasst uns wegen Genevieve nicht aneinandergeraten. Ihr wisst doch, wir sind die drei Musketiere.«
Wir brachen alle in unseren jeweiligen Unterricht auf und ich tat so, als hätte ich nicht gehört, wie Hannah mit ruhiger Stimme darauf hinwies: »Eigentlich waren es ja vier.«
Genevieve zu entkommen war etwa so, wie wenn man vor einem Flächenbrand zu fliehen versuchte. Sie traf – ein einziger Farb- und Energiewirbel – atemlos in der Klasse ein, als der Unterricht schon längst im Gange war, und erntete dafür nichts weiter als ein liebenswürdiges Lächeln unserer sonst so strengen Englischlehrerin. Ich war erleichtert, als sie sich auf die andere Seite des Klassenzimmers setzte, doch in welche Richtung ich mich auch wandte, immer befand sie sich in meinem Blickfeld. Ich lechzte nach Ruhe, um den Kopfschmerz, der hinter meinem linken Auge pulsierte, zu lindern, aber Genevieve bot sich freiwillig an, auf beinahe jede Frage von Mrs Hudson in einer so irritierend lässigen Art und Weise zu antworten, dass ihr die nach kürzester Zeit schon aus der Hand fraß. Genevieves Stimmeging mir auf die Nerven. Und schon bald schimmerte die grausame Wahrheit durch, dass Genevieve nicht nur hübscher, kontaktfreudiger und selbstbewusster als ich war, sondern mir auch in allen Fächern, die ich liebte, um Längen voraus. Mir wurde schlecht. Nach zwanzig Minuten sah ich nur noch verschwommen und in meinem Kopf explodierten zuckende Lichter. Zitternd stand ich auf, murmelte eine Entschuldigung und ging auf die Damentoilette.
Nachdem ich mich über das Waschbecken gebeugt und mein Gesicht mit kaltem Wasser bespritzt hatte, fühlte ich mich schon etwas besser. Mein Magen war leer, sein Inhalt bereits herausgewürgt. Als ich mich aufrichtete, schrie ich vor Schreck beinahe auf, denn Genevieve stand direkt hinter mir und wie in einem schlechten Horrorfilm sah ich ihr Gesicht im Spiegel vor mir. Ich ließ meine Tasche auf den harten
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