Bestiarium
Eltern sich die Mühe, nach Südamerika zu gehen, wenn es nicht so wäre?«
»Es tut mir leid, Martin. Das sind zu viele Fragen. Die Zeit reicht nicht aus, um sie ausreichend zu beantworten«, erwiderte James geduldig. »Ich kann dir nur so viel versichern, die Arche existiert. Aber sie ist kein Schiff, das von einem Hochwasser auf den Gipfel eines Berges im Iran gehievt wurde. Die Geschichte von der Arche ist eine Metapher. Aber dieses Château, dieser obskure Wald auf der nördlichen Halbkugel ist keine Metapher. Die Sintflut ... nun, stell dir vor, was geschah, nachdem die Eiszeit endete und Tauwetter einsetzte. Die Ozeane stiegen an. Und was das erste Menschenpaar betrifft, so wurden dreißig Kilometer von hier Grabstätten aus dem Pleistozän mit menschlichen Überresten gefunden. Es ist bloß unmöglich, dass alles zu entwirren. Aber es gibt Bereiche auf diesem Anwesen, die, soweit wir wissen, noch nie von einem Menschen betreten wurden. Der sogenannte Wilde von Aveyron hat hier gelebt, in den Ruinen des Klosters, ehe er in die Stadt umzog. Sie haben ihn hier niemals aufgespürt. Allerdings kannte Napoleon die Wahrheit.«
»Napoleon war hier?« Martin hätte es sich beinahe denken können.
»Nur für einen Tag. Er erfuhr, dass Soldaten an diesem Ort nicht willkommen waren, und er hielt sich glücklicherweise an dieses Verdikt. Er drang nicht weiter vor als bis zu dieser grasbewachsenen Lichtung, die du bei eurer Ankunft gesehen hast. Nicht einmal van Eyck, Brueghel der Ältere oder Buffon sind weiter als ein paar hundert Meter hineingegangen. Die Besucherliste ist beeindruckend, allerdings auch sehr kurz. Hierher kam man nur auf besondere Einladung, so viel ist sicher. Aber du musst davon ausgehen, dass nur wenige Leute jemals das Gebiet hinter dieser Mauer betreten haben.«
»Was ist mit dir und meinem Vater?«, fragte Martin erstaunt.
»Von Zeit zu Zeit, wenn es einen triftigen Grund dafür gab, ja. Lance hat es dann überprüft. Edward ebenfalls. Aber sie gingen nicht ganz hinein.«
»Aber was ist wirklich da draußen?«
»Wir wissen es nicht genau. Eine Art Zentrum, eine bestimmte Quelle und, höchst wahrscheinlich, ein ganz spezieller Baum. Aber das sind Spekulationen, die auf Instinkt, Fantasie beruhen und auf einer gewissen Neigung, die dem spirituellen Unterbewusstsein der Welt ähnlich ist. Die Mönche, die einst diese Ruinen unterhalb unseres Standortes bewohnten, sind zweifellos weiter als nötig vorgedrungen. Aber ihre Neugier diente am Ende dazu, eine heilige Legende innerhalb der Bruderschaft zu erschaffen. Jemand war dort, das wissen wir.«
»Wo war er? James, diese Rätsel sind einfach nur irritierend.«
James schaute zu Edouard Revere, der wegsah, sich in gewissem Sinn schämte, dass all das erst so spät zur Sprache kam, als ob man sich nur auf sein Glück verlassen hätte und sich der Konsequenzen dieses Vorgehens nicht bewusst gewesen wäre.
»Drücken wir es einmal so aus«, fuhr James fort, »irgendetwas von enormer Bedeutung ist da draußen, zahllose seltene Tierarten, das ist eine Tatsache, aber bis zu dem Moment, in dem es nötig sein könnte, sich dorthin zu begeben, ziehen wir es - wie die meisten vor uns - vor, zu leben und leben zu lassen. Nichteingreifen als Prinzip. In Sanskrit heißt es ahimsa. Gott allein weiß, dass der Mensch oft genug in die natürliche Ordnung der Dinge hineingepfuscht hat. Keine Maus, kein Fuchs oder Hase wurde hier jemals getötet. Kein Hühnerfleisch kam hier, zwischen zwei Brotscheiben gelegt, auf den Tisch, kein Lammfleisch in einem Eintopf. Kein Steak von einem Charolais-Rind. Tatsache ist, dass hier stets, wie soll ich es ausdrücken, so etwas wie pflanzliche Genügsamkeit an der Tagesordnung war.«
»Dann bist du also Vegetarier. Bitte reibe es mir nicht unter die Nase. Ich mag nun mal ein gutes Steak, wenn du nichts dagegen hast. Allerdings wirst du feststellen, dass du mit Margaret und Anthony, dessen Freunde zur Hälfte überzeugte Veganer sind, eine Menge gemein hast. Ich weiß nicht, was über die Leute gekommen ist.«
»Nun, da ist außerdem das Prinzip der Ursünde. Es gibt keinen Grund, dass wir eine Bürde sein sollen. Die Tiere führen ein Leben in Frieden. Warum sollen wir sie einer Stresssituation aussetzen, geschweige denn sie töten, um ihre Felle zu erhalten oder um sie zu verzehren oder uns in Dinge einzumischen, die wir nicht verstehen? Die Künstler, die hierherkamen, malten das, was sie sahen: das wahre Leben. Ich
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